Ich heiße heute Martha Hüner, bin 17 Jahre alt und wandere aus. Nach Amerika. Und nur für einen Tag.

Das sollte ich vielleicht erklären. Und Achtung: Ich könnte etwas weiter ausholen.

Es ist der 29. Juli 2013, und meine Eltern, meine Schwester und ich haben Anlass zu feiern. Heute vor dreißig Jahren haben wir uns auf den Weg gemacht, unser damaliges Land, die DDR, zu verlassen und in den Westen auszuwandern. „Übersiedeln“ hieß das damals ganz offiziell, denn es ging ja nur von einem Teil des Landes, dem kommunistischen, diktatorischen, in den anderen, den freieren, bunteren, vielleicht auch besseren. Aber, und da sind wir uns doch sicher einig, „auswandern“ klingt weit abenteuerlicher: nach entschiedenem Zurücklassen und frischem Neubeginn. Nach weißer Landkarte, nach zweitem Leben. Nach neuer Welt statt nur mal eben über den Zaun. Sehr absolut, und vor allem: unumkehrbar.

Mit beigefarbenem Lada aus russischer Produktion, einem ruckeligen Auto-Anhänger und einer draufgepackten, bis zum Bersten mit unseren Habseligkeiten gefüllten Wäschetruhe aus Weidenkorb zuckelten wir vier also Ende Juli ’83, in brütender Mittagshitze, über die innerdeutsche Grenze bei Herleshausen.

Eine befreundete Familie aus dem hessischen Seligenstadt holte uns ab, hieß uns willkommen und drückte uns Hanuta, Maoam und quietschbunte Sunkist-Päckchen in die Hände. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit anstellen sollte, beobachtete schüchtern die zwei Kinder der Westler, sah, wie sie einen Strohhalm in die Päckchen drückten und daran zuckelten. „Da ist Saft drin“, lächelte mich deren Mutter ermutigend an. Meine Welt war plötzlich farbig und sehr sehr süß.

In Seligenstadt, so war ganz ganz ursprünglich mal der Plan und so wurde es mir, dem Kind, erzählt, sollten wir wenige Tage bleiben und dann in ein Flugzeug steigen, zum eigentlichen Ziel unserer Reise: nach Amerika. In South Carolina lebten Verwandte, hier sollten wir fortan wohnen, unser Ausreiseantrag begründete sich eben darauf – auf Familienzusammenführung.

Wir hatten vier Green Cards für die Vereinigten Staaten, ausgestellt auf unsere Namen, für jeden eine. Auf meiner prangte ein kleines schwarzweißes Passfoto, ich, in engem Nicki, so nannten wir damals die Oberteile, bevor sie T-Shirts hießen, und mit sorgfältig gekämmten Mittelscheitel.

Wir hatten also vier Green Cards, aber auch viel Schiss. Dieser andere Kontinent da drüben, weit, weit über dem Meer, die unbekannte Sprache, die fremden Menschen. So viel Unvorhersehbares, und so viele Gerüchte. Würden wir auf die Unterstützung unserer Verwandten angewiesen sein? Und wenn ja, wie lange? Wie lange würde es dauern, bis meine Eltern Jobs gefunden hätten? Und was sind das für merkwürdige Religionen, denen die Leute in der Gegend da drüben anhängten? In diesem Bible Belt, dem Bibelgürtel Amerikas? Würden wir da mit hineingezogen werden? In eine Sekte womöglich? Wir wussten doch gar nichts von dem Land, kannten, wenn wir ehrlich waren, auch unsere Verwandten kaum.

Wie frei würden wir also anfangs sein dürfen, wie unabhängig? Was würde uns in den USA erwarten?

Es ist wohl diese existenzielle Unsicherheit vor einer neuen Welt, die alle Auswanderer verbindet. Aber auch die Hoffnung, am Zielort ein besseres, sichereres, vielleicht auch reicheres Leben führen zu können.

Das denken wir vier heute, als wir am Eingang des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven stehen. Natürlich hätten wir unser Ausreise-Jubiläum auch bei einem Essen feiern können, mit Rotkäppchensekt begießen oder mit Radeberger Bier. Ach, meinetwegen auch mit Sunkist-Saft. Aber das hier, der Besuch in diesem großartigen Museum, war die beste Idee überhaupt.

Hier werde ich zu Martha Hüner. Und das geht so: Jeder Besucher bekommt einen Boarding-Pass ausgehändigt und damit eine Identität eines Auswanderers zugeteilt. Hinter diesen Namen verbergen sich wahre Geschichten von Personen, die zu jenen sieben Millionen Menschen zählen, die von 1830 bis 1974 von Bremerhaven aus in die Fremde gestartet sind. Martha zum Beispiel war 17, als sie 1923 ihr kleines Dorf in Niedersachsen verließ, um in New Jersey, hier lebten schon ihre drei Tanten, ein neues Leben zu beginnen. Ihren Weg werde ich nun, ausgestattet mit einer kleinen Chip-Karte, über die ich an vielen Hörstationen im Museum persönliche Informationen über meinen Schützling abrufen kann, weiter verfolgen.

„Eine raffinierte Idee“, sagt meine Mutter, die als Dr. Hertha Nathorff durch das Museum wandert, eine jüdische Ärztin und Nichte Albert Einsteins, die 1939 vor den Nazis nach Amerika geflohen ist. „Durch die Identifikation erlebt man die Details der Auswanderung hautnah mit, ist viel näher dran, viel stärker involviert.“ Spricht’s und hält sich wieder den Hörer ans Ohr, um weiter Herthas Geschichte zu lauschen.

Das Auswandererhaus ist kein reines Museum. Es ist ein Erlebnishaus mit Elementen, wie es sie auch in Disneyland geben könnte. Mit Figuren etwa, die am Kai stehen und hochschauen zum Schiffsrumpf des – beeindruckend angedeuteten – Überseedampfers, den sie gleich besteigen werden. Sie tragen authentische Kleidung des vorletzten Jahrhunderts, stapeln Koffer und Kisten neben sich und hängen – das wird hörbar über kleine Lautsprecher – ihren Gedanken nach, ihren Zweifeln. „Ist das richtig, was ich hier tue? Noch könnte ich umkehren.“ „Die sehen richtig echt aus“, sagt meine Mutter. Und die Gedanken? Auch die kommen uns, den Übersiedlern von 1983, bekannt vor.

Schließlich gehen wir selbst an Bord, laufen eine Gangway hoch – und befinden uns plötzlich im Innern eines Schiffs. Bedrückend eng sind die Kabinen, es ist warm, im Bereich der dritten Klasse, dem berüchtigten Zwischendeck, zudem dunkel und muffig. „Hier zehn Tage aushalten müssen, das ist fast eine Strafe“, sagt meine Schwester, deren Figur Justina Tubbe 1855 mit einem Segelschiff nach New Orleans auswanderte – 60-jährig. Meine Schwester quetscht sich ansatzweise in eine der Kojen, um ein Gefühl für die Enge zu bekommen. „Puh, da pass ich ja kaum rein“, sagt sie. Mein Vater überlegt unterdessen, ob sich das nachgebaute Schiff bewegt. „Das schwankt doch, oder?“ Wir halten alle inne. „Jetzt wirklich, oder?“ Hm. Oder auch nicht?

Besonders entzückend: Hinter jedem Requisit, jedem Ausstattungsdetail verstecken sich Texte oder Bilder. Luken, Fenster, sie alle lassen sich öffnen und offenbaren interessante Informationen. In der Schiffsnasszelle lassen sich sogar die Wasserhähne drehen – in Gang gesetzt wird dadurch eine kleine Schriftrolle mit Geschichten. Und sogar, wer sich auf die Klobrille setzt (nur Mut!), startet damit am gegenüberliegenden Bildschirm eine kleine Info-Show. Und erfährt so unter anderem, dass auf manchen Schiffen nur zwei Wasserklosetts für 100 Passagiere zur Verfügung standen.

Am meisten berührt mich (und wer meine Geschichte auf New York Fate of mine liest, wird das verstehen), dass die Museumsmacher den Grand Central Terminal nachgebaut haben. Und zwar mit einer Liebe und Detailarbeit, dass ich glänzende Augen bekomme. Da habe ich doch eben selbst noch gestanden, in der Eingangshalle mit der smaragdgrünen Decke, und habe der Audio-Tour über diesen großartigen New Yorker Bahnhof gelauscht; schon bin ich wieder in Deutschland und erlebe ein kleines Revival. Die Ausstatter haben sich wirklich alle Mühe gegeben: das Sandstein-Weiß der Wände, die Treppe, das Geländer, sogar die Auskunftsschalter – so wirklichkeitsnah, als würde hier gleich der Zug nach Poughkeepsie oder Albany abfahren.

Stattdessen trieb es Anfang des letzten Jahrhunderts die meisten Auswanderer – die man doch spätestens jetzt Einwanderer nennen müsste? – vom damals größten Bahnhof der Welt aus nach Chicago – dort erhofften sie sich Jobs und ein gutes Auskommen. Im Auswandererhaus ist der Grand Central zugleich Station für die letzten Informationen über unsere Schützlinge. Hier erfahren wir, was aus ihnen geworden ist. Martha etwa war im Herzen nie wirklich in den USA angekommen. Zwar lebte sie jahrzehntelang in New Jersey, aber sie heiratete einen deutschen Bäcker, eröffnete mit ihm eine Bäckerei – und fuhr viele Male zurück in ihre Heimat. Kurz nach dem Tod ihres Ehemanns und nach einem Schlaganfall kehrte sie zurück nach Bremerhaven – starb aber bald darauf. Auch Mamas persönliche Auswanderin, Dr. Hertha Nathorff, die vor den Nazis geflohene Jüdin, lebte sich nie wirklich in ihrem neuen Land ein. Ihr medizinisches Examen wurde nicht anerkannt, sie arbeitete als Krankenschwester, wurde immer wieder als „Nazispy“ beschimpft. Nach Deutschland kehrte sie aber trotzdem nicht zurück. Bitter schaut Hertha schließlich als betagte Frau auf ihre Auswanderung zurück und sagt den wohl bedrückendsten Satz der Ausstellung: „Am Ende wäre ich lieber vergast worden.“

Auswandern, ja, da schwingt viel Hoffnung mit, die Aussicht auf ein schöneres Leben. Aber wer kann schon sagen, ob auf der anderen Seite wirklich alles besser ist? Sicherer? Freier?

Wir vier haben den letzten Schritt damals nicht gewagt, sind nie in den Flieger gestiegen, der uns nach Amerika bringen sollte. Stattdessen haben wir uns in Westdeutschland ein neues Leben aufgebaut. War das klug? Umsichtig? Oder vielmehr verzagt? Mutlos? War es die richtige Entscheidung, auf halber Strecke stehen zu bleiben? Wir werden es wohl nie wissen.

Was aber bleibt: Mir, der älteren Tochter, sind die USA durch viele Reisen zur Heimat meines Herzens geworden – so sehr, dass ich mich sogar entschied, Amerikanistik zu studieren. Meine Schwester macht sich immerhin dann und wann mal auf den Weg über den Teich.

Meine Eltern aber haben Amerika bis heute nicht betreten.

Deutsches Auswandererhaus
Columbusstraße 65
D-27568 Bremerhaven
Tel.: 0471/ 9 02 20-0

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