Es ist ein bisschen unheimlich. 18 Jahre haben wir uns nicht gesehen, nicht gesprochen, nicht gesimmst, nicht gefacebooked. Ich wusste lange Zeit nicht, wo sie gelandet waren, wie es ihnen ergangen war, ob sie überhaupt noch…, naja. Und nun, recht abrupt, sollten wir uns bei M. wiedersehen.
Ich treffe sie schon auf dem Weg. An der Ampel stehen sie neben mir, in einem schwarzen, schicken Audi, einem Kombi mit Kindersitz, aha. Ich erkenne die beiden sofort: Matze, immer noch dasselbe verschmitzte Grinsen, Wolf – der gleiche treuherzige Blick. Zwei gute Jungs, das waren sie schon damals, grundehrliche, nette, witzige, hilfsbereite Typen, zum Liebhaben. Würden wir uns wieder, noch immer, mögen? Wie haben sie sich entwickelt? Und: Wie habe ich mich eigentlich entwickelt? Was werden sie sehen, wenn sie mich sehen?
Angestoßen hatte das Treffen meine alte Schulfreundin Anne, die noch immer mit Wolf im Kontakt steht. Er habe immer wieder gefragt, raunt sie mir zu, während sie mir Aperol einschenkt, ob wir uns nicht alle mal wiedersehen könnten, uns mal wieder austauschen, vielleicht gar anknüpfen an die alten Zeiten. Nun sitzen wir im Wohnzimmer von M.s Eltern, sie sind die einzigen, die wir kennen, die noch einen Videorekorder haben, und starren auf den Bildschirm. Im Gerät: ein selbstgedrehter Film von einem gemeinsamen Wochenende von.vor.18.Jahren. Ich sage ja: Mir ist unheimlich.
Nicht besser wird es, als Wolf, noch während darauf warten, dass der Film beginnt, eine abgegriffene Kladde auspackt. Ach du liebe Güte, das wird doch nicht – „das Cliquenbuch!“, ruft er fast triumphierend und legt das Heft behutsam auf den Couchtisch. „Du hast das etwa die ganze Zeit über…?“ „Aber natürlich, so was schmeißt man doch nicht weg!“, sagt er, wieder mit diesem vertrauten Kulleraugenesistdochallessowichtig-Blick.
Mich beschleicht ein Verdacht: Könnte es sein, dass Wolf kein Stückchen weiter gerückt ist in seinem Leben? Oh Gott, könnte es gar sein, dass er unserer gemeinsamen Zeit, dieser damals gefühlten Ära – und im Rückblick ja doch nur wenigen Teenagermonaten – nachtrauert?
Es ist ein bisschen wie ein Klassentreffen, was wir hier veranstalten, nur härter, da ein kleinerer Kreis und intimer und, ja, da wir immerhin mal das waren, was man früher eine Clique nannte. Die Clique, um genau zu sein. Wolf machte da immer ne große Sache draus. Notierte, was wann wer gesagt hatte, wer welche Lieder mochte, wer auf welches Konzert gehen würde. Kassenzettel von gemeinsamem Shopping, Kinokarten, das alles sammelte er und – wie ich jetzt sehen muss – klebte es nachträglich akribisch in diese etwa 100 Seiten starke Kladde ein. „Hier, Ro“, sagt er, „hier hast Du was Wunderbares reingeschrieben, darüber freue ich mich noch heute.“ Ich spähe in das Buch. „Ich liebe Euch alle“, muss ich am 3. Oktober 1994 notiert haben, mit rotem Filzer und, oh weh, mit kleinem Herzen daneben. Nun gut, es waren die Neunziger. Man war gern kitschig, hörte Cat Stevens und auch mal die Kelly Family, sprach über Gefühle und malte eben Herzchen. Und ich weiß auch ganz sicher, dass ich das damals nicht ironisch meinte. Aber vielleicht auch nicht gar zu ernst.
Der Bildschirm flimmert, das Video startet. Und ich tauche ein in 1994, fahre mit einer blutjungen Ro in einem blauen, klapprigen, röhrenden Ford Escort – ausgeliehen von ihrer Mutter, sehe Ro über Feldwege springen in einem übergroßen rostbraunen Blazer mit Schulterpolstern, sehe sie im Ferienhaus vorgekochten und mitgebrachten Soljanka-Eintopf auf Teller verteilen, höre sie singen (Love is all around, Wet Wet Wet, gerade als ich dachte, es könnte nicht schlimmer…), beäuge skeptisch ihre noch ungefärbten, ungestylten aschblonden und viel zu langen Haare. Wenn ich ehrlich bin: Das hier ist nicht nur ein Treffen mit alten Freunden. Das hier ist auch ein Treffen zwischen Ro und Ro. Zwischen 2012 und 1994. Zwischen „soviel ist schon geschehen“ – und „alles ist noch möglich“.
Himmel hilf. Fahrig sind Ros Bewegungen, sie taucht immer ab, wenn sie merkt, dass sie gefilmt wird, macht dabei ein genervtes, fast empörtes Gesicht, aber insgeheim (sieht man es ihr wirklich an – oder weiß ich es nur?) freut sie sich über die Aufmerksamkeit der Kamera. Mädchen, entspann Dich, möchte ich ihr zuflüstern. Rede langsamer, denke nach, bevor du einen Spruch machst, sei nicht so hektisch, sei lockerer. Und zieh endlich diesen Blazer aus.
Aber irgendwie rührt es mich auch, wie sie da aus großen, ungeschminkten Augen in die Kamera schaut, fast empfinde ich so was wie, ja kann das?, Muttergefühle für dieses blasse Mädchen, das später ich sein wird.
Dieses Ich sitzt also heute auf einer beigefarbenen Couchgarnitur in einem kleinen hessischen Dorf, blättert etwas gedankenverloren durch Wolfs Tagebuch der gemeinsamen, eigentlich recht kurzen Zeit ihrer Freundschaft und fragt sich: Was hat sich noch geändert, außer dass Matze nun einen Kindersitz spazieren fährt (Tim, anderthalb Jahre alt, ein zweites ist unterwegs)? Erwachsen ist er geworden, er, der immer etwas zu dünn, zu aufgedreht und mit zu weißen Jacken durch die Gegend lief. Ein bisschen angesetzt hat er, aber gut sieht er aus. Reif und vernünftig mit seinem gestärkten Hemd und der schwarzen Jeans, doch auch immer noch schelmisch. Die geplatzte Selbständigkeit hat er offenbar locker weggesteckt, jetzt arbeitet er als IT-Angestellter im Mittelständischen. Sehr, sehr solide. Sehr angekommen. So anders Wolf, dem ich kaum in die Augen sehen kann. Er freut sich so über das Wiedersehen mit uns allen, dass es schmerzt. Das erste Bier, das ihn wohl beruhigen soll, lässt ihn nur aufgeregter werden, das zweite dann sentimental und erinnerungsrührig. Wisst ihr noch? Aber ihr könnt doch nicht vergessen haben? Damals, an dem Tag, als wir im Garten dieses Fest hatten…?
Ich bin nah dran, ihn in den Arm zu nehmen, lass es dann aber. Will keine Hoffnungen wecken in diesem Mann, der so offensichtlich nach sozialen Strohhalmen giert. Will keine Hoffnung machen auf eine etwaige Wiederbelebung dieser Uraltfreundschaft. Was weiß denn ich, wo das hier hinführt? Zum Cliquenbuch, Volume II? Sicher nicht, sicher nicht mit mir. Ich schiele zu Anne hinüber, sie zwinkert mir zu. Ist doch alles ganz nett, oder?, scheint sie zu sagen. M. hält sich bedeckt, hört zu, tut aber auch nichts, um die alte Cliquenwirtschaft weiter anzufeuern.
Ich seufze. Was macht man mit all den Erinnerungen, den Flashbacks, den Gerüchen, die man noch immer in der Nase hat, den Klängen, die einen weiter begleiten, den Träumen, die man damals hatte und die heute nur erahnbar sind? Was mit den Gefühlen, die man damals hatte, diesen lieben Leuten gegenüber, die sich nun aber mal verändern, so wie man sich selbst verändert, weiter geht, wächst?
Behüten, sagt meine Schwester. Nicht verleugnen, nicht vergraben, einfach nur aufheben und immer wieder mal anschauen. „Es sind doch nur Erinnerungen.“
Als ich an diesem Abend nach Hause fahre, kurz nachdem ich alle vier der Reihe nach gedrückt habe und wir über ein erneutes Treffen diskutiert haben (ja, vermutlich, so irgendwann Ende des Jahres), bin ich merkwürdig beschwingt. Sie sind so gute Menschen, denke ich, so liebenswürdig und warmherzig. Warum sich nicht wieder annähern, sich wieder erneut anfreunden, auf einer erwachsenen Ebene? Weniger mein Verstand als vielmehr ein Gefühl sagt mir, dass es bereichernd sein könnte. Und ich fange an, vor mich hin zu summen. Der alte Ohrwurm. Love is all around.
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