Also Ahrenshoop.

Hier will ich hin, seit Marion Brasch* in einem Dokumentarfilm davon sprach, in einem Nebensatz nur, aber seltsam eindringlich, seltsam wahrhaftig, wie sehr ihr Bruder diesen Ort geliebt habe. Ihr Bruder — Thomas Brasch, Schriftsteller, Lyriker und Filmemacher – war ein Ost-West-Ost-Wandler, und ein so kluger, empfindsamer Geist (from what I know), dass ich etwas gebe auf sein (übermitteltes) Liebesgefühl zu diesem Ostseeort auf dem Darß. Etwas wird hier schon sein, in der Luft, in der Brandung, dass es diesen sensiblen rockigen Freigeist hierher zog.

Ahrenshoop also. Kein Usedom dieses Jahr, kein Fehmarn. Vage, noch vor dem Abbiegen auf die A20 Richtung Rostock, ach, noch vor dem Buchen der Ferienwohnung, denke ich: Reetdach. Denke: Motive, Farben, die zum Malen animieren. Denke: Gefühle, Eindrücke, Geistesfreiheiten, die zum Schreiben verleiten.

Oder ist das alles Quatsch? Und Ahrenshoop ein Feriendorf wie viele andere? Verbaut, vergoscht, versteffenhensslert, mit Beachball-Sets und quietschbunten Fischernetzen an jeder dritten Ecke? Ich traue mich nicht zu recherchieren. Ich reise einfach an. Uninformiert (nicht: uniformiert), voller Hoffnung. Ahrenshope.

(*war es wirklich Marion Brasch? War es nicht doch Katharina Thalbach, im Rückblick auf ihren damaligen Partner? Oder Bettina Wegner vielleicht? Ich bin ein unzuverlässiger Erzähler in diesen Tagen, aber ich bin auch urlaubsreif.)

Autsch, Ahrenshoop.

“Was hat der denn geschrieben?”, fragt die Buchhändlerin, als hätte ich nach, ich weiß nicht, einem vergessenen Schreiber aus dem 19. Jahrhundert gefragt oder einem Lokalkrimi-Autor aus der westlichen Eifel. (Nichts gegen Eifel. Nichts gegen Lokalkrimi-Autoren.) Thomas Brasch? Sagt ihr nichts. Ich wiederhole den Namen, deutlicher, sage, er sei früher oft hier gewesen, hätte diesen Ort geliebt; in meiner Stimme, so glaube ich, schwingt etwas Kann-es-wirklich-sein-dass-Sie-ihn-nicht-kennen?-Entsetzen mit. Sie tippt auf der Tastatur ihres Computers herum, schüttelt den Kopf, führt mich zu dem kleinen Lyrik-Eckchen ihres Ladens. Wilhelm Bartsch, Hilde Domin, Christian Morgenstern. Kein Thomas, kein Brasch, nirgends.

Äh, Ahrenshoop?

Ich verstehe Ahrenshoop noch nicht. Es ist der erste Urlaubstag, ich wandere durch den Ort und grübele, woran mich die Wege, die Häuschen, die Ruhe erinnern. Der bleake Strand, das seltsam Wild-Aufgeräumte, und auch das Gefühl, hier nicht herzugehören – von Standeswegen. Hier aber sehr wohl herzugehören auf einer energetischen Ebene — von Strandeswegen, if you may. Kampen. Kampen? Ja! Sylt. Dieses feine Life-is-good-Gefühl, das Luft, Natur, Kartoffelrosen und Dünen mir vermitteln, gepaart mit dem Schmerz, all dies in einem Ort der Hochverdiener zu finden. Selber also nur gastweise für zehn, vielleicht mal elf Tage daran nippen zu können (von Konto-Standeswegen). Ein Sylt-, ein Kampengefühl eben.

Kristine von Soden widerspricht mir. Mit dem „Dorf am Roten Kliff“, diesem Sylter Luxusort, habe Ahrenshoop „nichts gemein“. Hier gebe es keine Medienstars, keine Luxushochzeiten in den Dünen, und Champagnergestalten wie Gunter Sachs begegne man hier gleich gar nicht. Die gebürtige Hamburgerin kennt Ahrenshoop gut, hat mehrere Bücher über den Ort geschrieben und betont in einem davon („Ahrenshoop — Balancieren auf der Meerschaumlinie“, Transit Verlag) die hohe Literaturaffinität der Einheimischen. Über Bücher werde hier mindestens so gern gesprochen wie über das Wetter, Lektüre sei mindestens so wichtig wie das Körnerbrot vom (einzigen) ortsansässigen Bäcker. Und auch dass der Edeka hier noch immer Kaufhalle genannt werde, spreche doch, insinuiert sie, für das Ursprüngliche dieses Orts.

Doch sie räumt auch ein: Jeder noch freie Bodenquadratmeter in Ahrenshoop werde „renditenlüstern beäugt“, oft „dem Monopolyspiel geopfert“. Und so beäuge ich, die ich ja sehr wohl durch meinen Ferienaufenthalt, den recht hohen Mietpreis für unser Domizil, Teil des Spiels bin, die Lokalitäten: Boutiquen, Geschenkeläden, eine Parfümerie. Die Restaurants bieten kaum Hauptgerichte unter 25 Euro an; aber vielleicht ist das republikweit schon normal, vielleicht sollte mich das nicht groß wundern, vielleicht hatte ich auch Ostpreise erwartet, Soljanka für 5 Euro, Würzfleisch für 7 Euro, so in der Art, und ja, dafür schäme ich mich.

Der Ort und ich, wir müssen uns wohl erst finden. Oder, Ahrenshoop?

„Jeder freie Quadratmeter wird renditenlüstern beäugt“

Ach, Ahrenshoop.

Der Mann, der mitgereist ist, stellt schnell fest, in seiner nüchtern-brummigen Art, dass „hier ja abends nicht viel los ist“. Kein weiter Platz, auf dem Kinder herumtollen können, keine Strandmuschel, in der allabends eine lokale Band, ein Chor, ein Singer-Songwriter aufspielen, keine zünftige Fischerkneipe. Hier – ist – wirklich – Ruhe. Ein bisschen abschätzig, ein bisschen klagend bestätigen wir uns das beide.

Aber wie dankbar bin ich schon wenig später: eben keine Strandmuschel, kein Kurhaus, keine Promenade mit Eis hier und Pommes dort und Bubble Waffle noch dazu (wer all das will, wird im Nachbarort fündig: Wustrow hat eine kleine, aber sympathische Fressmeile, die geradewegs zur Seebrücke führt). Auch das, eine Seebrücke — nicht hier in Ahrenshoop. Die Strandzugänge führen stichstraßenartig durch die Dünen aufs Meer zu, ein Küstenweg ist zwar vorhanden, aber kurz und kurvig, beim Grenzweg werden Fußgänger und Radfahrer in den Ort zurückgeführt. Flaniert? Wird nicht. Wer flanieren will, fahre bitte nach Grömitz oder Travemünde oder rüber nach Ahlbeck. Sehen oder Gesehenwerden, schreibt auch Kristine von Soden, gibt es hier nicht. Würde doch nur „albern“ wirken, „aufgesetzt“.

Ich falle in Liebe, hier in Ahrenshoop, mit Ahrenshoop.

Vor allem fällt man, merke ich rasch, auf sich selbst zurück. Auf sich und seine Gedanken, die, irgendwann, nachdem man die Pommes nicht mehr misst, und die Wunder-Eistüten auch nicht, und auf die Speisekarten der teuren Restaurants einfach keinen Blick mehr wirft, ruhig werden. Ruhig und tief und versöhnlich. Ahrenshoop ist ein guter Ort. Er streichelt mich, lächelt mir zu. Sagt: Lass sie schweifen, die Gedanken, lass alles zu, hier ist niemand, der wertet, niemand, der urteilt, hier baden die Leute nackt, auch ohne FKK-Schild, und keinen juckt’s. Und auch ich wechsele meine Badeklamotten bald schon outdoor in freizügiger Manier wie sonst nie (und vermutlich: nie wieder). Kein einziges Mal musste ich bislang meine Kurkarte vorzeigen. Nicht einmal kamen Strandkorbwächter, um zu schauen, ob alles seine Ordnung hat. Alle 30 Minuten fährt eine nette Studentin mit einem Gefährt über den Strand, verkauft Wasser von Aldi und Bockwurst, Pharmazeutin will sie werden und freut sich über Trinkgeld.

In Ahrenshoop fällt man auf sich selbst zurück

Aha, Ahrenshoop!

Ich packe Uwe Johnsons „Jahrestage“ aus, am dritten Tag ist das. Ein Buch, das „Sie doch wohl hoffentlich alle mal gelesen haben?“, wie Jana Hensel (ZEIT-Redakteurin, Autorin von unter anderem „Zonenkinder“) neulich erst im Frankfurter Literaturhaus, zum Publikum gerichtet, sagte. „Haben Sie doch? Haben Sie doch?!“, schob sie hinterher. (Ein feiner „Ich-packe-meinen-Bücherkoffer-aus“-Abend war das übrigens, im Doppelpack mit Charlotte Gneuß („Gittersee“), ich werde irgendwann nochmal etwas ausführlicher berichten).

Ich machte mich ganz klein in meinem Literaturhaus-Sitz, denn nein, gelesen hatte ich „Jahrestage“ noch nicht, strahlte aber auch, wollte fast schon glücklich und heftig nicken, denn: Immerhin hatte ich mir das Buch unlängst schenken lassen, es sollte der Klassiker dieses Sommers werden (mein Spiel seit Jahren schon: jeden Sommer ein Klassiker, ein Buch, das sich in Schulzeit und Studium erfolgreich an mir vorbeigemogeln konnte; nach Glasglocke, Montauk, Moby Dick und Verwandlung nun also Johnsons erster Band). Und nun stellt Jana Hensel, ausgerechnet Jana Hensel, deren Ost-West-Gedanken ich so schätze (hört mal bitte in die „Alles-gesagt“-Folge mit ihr rein, ich hatte Gänsehaut vor lauter Aha), das Buch als eines ihrer Lebensbücher vor. Zusammenfälle, wie ich sie liebe.

Warum Johnson? Ihn will ich lesen, seit ich vor Jahren an einer Pressereise in den Klützer Winkel (eine Region so ungefähr im Dreieck zwischen Lübeck, Boltenhagen, Wismar, mit dem Dorf Klütz im Nukleus; der Slogan damals: „der Klützer Winkel reicht so weit, wie man gerade noch den Klützer Kirchturm sehen kann“) teilgenommen habe. Von hier, von Klütz, stammt Uwe Johnson, ein lokales Uwe-Johnson-Literaturhaus erinnert daran (ich war nicht drin, damals, die Pressereise wollte Guthäuser in den Vordergrund hieven, für Literatur war kein Platz, keine Zeit, und wer ist überhaupt dieser John Uweson).

„Jahrestage“ ist mecklenburgisch geprägt, deshalb wanderte es in – diesmal meinen — Bücherkoffer für diese kleine Reise. Dass nun Uwe Johnson aber auch speziell eine Verbindung zu Ahrenshoop hat, dass er hier, Mitte der 1950er Jahre, Urlaubstage verbracht hatte, lese ich erst bei Kristine von Soden. Bei den Löbers habe er gewohnt, schreibt die Ahrenshoop-Kennerin, das Haus gibt es noch, heute ist hier eine Keramikwerkstatt untergebracht. Irgendwo lese ich, dass Thomas Brasch hier ganz in der Nähe, auf einem Heuboden, Abende, Nächte verbracht habe — und bald kann ich nicht mehr vor lauter Zusammenfällen, vor lauter unsichtbarer Fäden, die alles so magisch miteinander verbinden.

Adieu Ahrenshoop (ja, so schnell schon, denn zehn Tage sind kurz),

adieu, du fantastischer Ort. Fantastisch, da Du kaum real sein kannst mit deinen Geschichten, den Erinnerungen, die über deinen Häusern, deinen Kartoffelrosen, deinen blau-rot-gelben Blumenfeldern lingern, ich müsste Wochen, vielleicht Monate hier sein, einfach nur sein, um Dich noch mehr ergründen zu können. Fantastisch auch, weil Du etwas anrührst in einem, nun vielleicht nicht in meinem geliebten ostwestfälischen Reisebegleiter-Mann, aber in denen, die offen sind für Dich und Deine Schwingungen, weil Du, wirklich, den Raum öffnest zum Weiterdenken, Weiterfühlen, sich selbst weit machen.

Und natürlich bist Du nicht nur ruhig. Oder verschlafen, langweilig gar. Dienstags holst Du Musiker an den Strand, die in einem überdimensionierten Strandkorb, so viel Event-Feeling hast Du Dir dann vielleicht doch in Ahlbeck oder Travemünde abgeschaut, auftreten. Die Stimmung: lässig, entspannt, wie ein Eben-aus-dem-Wasser-gekommen-nun-halt-noch-nen-Musik-Absacker mitnehmen. Füße bleiben im Sand, Ostseeluft weiter in der Nase, und die Lady-Gaga- und John-Denver-Covers klangen noch nie so schön wie hier, in meinen von Ostseesand bekitzelten Ohren. Du veranstaltest Jazztage und Kulturtage, in Deinem Künstlerhaus Lukas kommen Stipendiaten unter, um für eine feine weite Weile an etwas zu arbeiten oder zu sich zu kommen oder zu anderen oder zu Schlüssen oder zu Ergebnissen oder auch einfach zu gar nichts. Weil hier alles so schön ist. Weil hier Grau, wie Judith Schalansky findet, eine warme Farbe ist und weil ich sie darin so verstehe. Auch das ist Magie, die Farbmagie dieses Orts.

Und natürlich hast Du auch ein Kunstmuseum. Denn das ist geblieben hier, von der Künstlerkolonie, die Du einmal gewesen bist: einige Galerien, Töpferwerkstätten, und eben dieser museale Ort. Im Museumsshop gibt es Bücher zu kaufen, ein letzter Blick, eine letzte Hoffnung, Brasch? Ein Septemberbuch liegt da, ja Mensch, hier wird es ja nun sein, oder? Braschs feines Gedicht, Der schöne 27. September, das wird doch hierinnen stehen? Das lässt man doch nicht liegen, so ein passgenaues Stück für eine Monatsanthologie? Das wäre doch-. Aber nein. Zwischen Jandl, Fontane und Kaschnitz und Roth —
kein Brasch, nirgends,
und ich gebe auf, nun.

Von der Ausstellung, die es 2015 Brasch zu Ehren hier mal gegeben haben soll, wissen die netten Damen am Servicestand des Museums auch nichts mehr. Zu lange her, zu lange her, der Ostseewind hat’s verweht, nur die Welt weiß noch davon zu berichten, und damit meine ich auch leider nur – die Zeitung.

Und ich?

Ich werde bald schon zurückgekehrt sein, nach Frankfurt, ein paar Tage später schon. Doch dort, einmal angekommen, werde ich etwas wahrnehmen. Jeden Tag, und vielleicht jeden Tag ein bisschen mehr, werde ich spüren, wie ich schwinge. Nachschwinge. Wie mich morgens und mittags und abends schwankend etwas erinnert an einen Ort, den ich kannte, wo ich eben noch gewesen war. So wie man nach einem Segeltörn noch tagelang, längst auf festem Boden schon, sich schaukelnd wähnt, so werde auch ich noch eine Weile in dieser Schwingung bleiben, in deiner Schwingung bleiben, Ahrenshoop, werde mich verschaukeln lassen von dir. Wie ein Mobile, einmal angestupst, wird mich die filigrane innere Bewegung noch eine Weile an Dich erinnern, bis ich irgendwann. Nicht mehr weiß woher. Der Sand. In meinen. Schuhen. Kommt.


Shownotes
(vorab: keine beauftragte, noch nicht mal beabsichtigte Werbung, reiner Servicegedanke, reine Information, kein Rezensionsexemplar, keine Pressereise, alles selbst bezahlt):

 

—- Die Bücher von Kristine von Soden kann ich für ein Einfühlen in den Ort nur empfehlen; wer Glück hat, ist vielleicht auch gerade dann in Ahrenshoop, wenn die Autorin ihren literarischen Spaziergang anbietet, am ersten Dienstag im Monat nämlich (in der Saison). Alles dazu gibt’s auf ihrer Homepage unter: https://vonsoden.de

—  Der Dokumentarfilm, der so fantastisch das außergewöhnliche Leben der Familie Brasch beschreibt, heißt, na, fast könnte man drauf kommen: Familie Brasch; gemacht hat ihn (so wunderbar) Annekatrin Hendel. Mehr dazu gibts hier: https://itworksmedien.com/news/familie-brasch-in-der-ard/. Aber hab‘ ich den oben erwähnten Satz wirklich aus diesem Film? Oder hab‘ ich ihn woanders aufgeschnappt? Ein Rätsel, was ich lösen darf…

— Wirklich, die Ahrenshoopener haben sich was Feines ausgedacht, um ihre Bewohner und (oder etwa: nur?) die Besucher zu unterhalten: Dienstags (Dienstag scheint der Tag zu sein, oder? Erst mit Frau von Soden s.o. der Literatur nachspüren, dann einen musikalischen Strandabsacker nehmen, so lässt es sich doch leben) gibt es die Sommerabende, Musik am Strand. Für mehr Infos dazu bitte hier entlang: https://www.ostseebad-ahrenshoop.de/schnell-suchen-und-finden/ahrenshooper-sommerabende/

— Bildhauer? Schriftsteller? Musiker? Im Künstlerhaus Lukas können sich Künstler (auch anderer Sparten) um Arbeitsaufenthalte, sprich: Stipendien bewerben. Ich würde sagen: Wo, wenn nicht hier, können sich Ideen entwickeln, kann die Muse hüpfen, die Inspiration blubbern? Hier gibt’s mehr dazu: https://kuenstlerhaus-lukas.de/bewerbung

Und schließlich:

—  Uwe Johnson: Jahrestage, Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
1. Band, Suhrkamp Verlag
Broschur., 432 Seiten
ISBN-10: 3518464515

 

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