Zelten für Anfänger
Das erste, was ich sehe, als Diana uns über ihren Campingplatz führt — hier die Toiletten, hier die Schattenplätze, dort die Sonnenplätze, hier die ruhigen Ecken, „dort Familie mit Baby, zu laut für Euch“ –, ist diese Frau mit dem Handfeger.
Gebückt steht sie da, in ihrem Vorzelt, ihre Füße in Schlappen, die früher mal himmelblau gewesen sein mussten, der Schweiß tropft ihr von der Nase, während sie versucht, den Boden, diese Plastikplane, von allerlei….naja…etwas zu befreien.
Denn, ja, hier ist Schmutz. Oder das, was ich gemeinhin, aus einer sauberen Wohnung kommend, Schmutz nennen würde. Blätter, Blätterchen, fiese kleine, die sich überall hin setzen und sich an Textil klammern, hier sind Ästchen, und hier ist kleines, knubbeliges Irgendwas-von-den-Bäumen. Und alles in demselben schlammigen Braunton. Wirklich, kaum farbliche Unterschiede. Wenigstens das, Natur, du, hättest du doch besser hinbekommen können, oder?
Diese Dame also, ich möchte sie weiter so nennen, denn ich bin mir sicher, in ihrem richtigen Leben ist sie das, fegt, konzentriert und gelassen. Will ihr Heim sauber halten. So gut es eben geht. Uns Besucher, uns Neulinge, nimmt sie gar nicht wahr.
Was für eine Welt, denke ich.
Wo Menschen sich kurz umsehen, Baum 1 ausschecken, Baum 2, den Boden begutachten — eben, uneben? –, sich dann auf einem Areal aufstellen — „hier!“ –, als würden sie einen Claim abstecken, und schließlich ein 3×5-Meter-Plastikgewebe auseinanderfalten und daraus ein Heim bauen.
Diese Menschen sind wir.
Der Mann und ich.
Und ja, ich habe mir das selbst ausgesucht. Zelten, das erste Mal.
„Das erste Mal?“, fragte der Mann entgeistert, als ich ihm, noch daheim, auf einem ordentlichen Sofa vor einer ordentlichen Wand sitzend, von meiner Camping-Jungfräulichkeit erzählte. Und hatte ich erwähnt, dass er Ostwestfale ist? Und weiß man unter meinen Lesern, dass sich entgeistern nicht zu den üblichen Reaktionen dieser Bevölkerungsgruppe gehört?
Haltet mich für verrückt, aber ich mag Zimmerdecken ganz gern
„Du warst also nie im Zeltlager?“, fragte er.
„Nie mit deiner Familie campen in Südfrankfreich oder in Mecklenburg?“
„Nie zelten aufm Festival?“
Ich gebe zu: Ich mag Wände recht gern. So ordentliche, im rechten Winkel aufgestellte Dinger. Tür, Schloss, ein Boden, den man nicht zwingend auf Unebenheiten prüfen muss. Sind doch gute Errungenschaften, das. Zimmerdecke. Noch so ein Lieblingsstück von mir. Ich weiß, ich weiß, call me crazy.
Als wir nun aber so die Bäume begutachten, der Mann fachmännisch den Boden abtritt, hier könnte es gehen oder hier, habe ich plötzlich einen Flashback.
∞∞∞∞ Kinderspiele ∞∞∞∞∞∞
Familie spielen. Das war eine unserer Lieblingsdraußenbeschäftigungen als Kinder. Irgendwer war die Mama, einer der Papa, Kinder gabs meistens auch. Immer auch: ein Heim. Wir, das waren mal eine Natalie, mal eine Katja, mal ein Frank, Stefan, Matthias, guckten herum, schauten uns zwischen den Büschen um, und ohne lang zu überlegen (was juckte es uns, ob der Boden eben oder uneben war) wurde eine der Höhlen zwischen den Büschen und Bäumen zum Zuhause gekürt.
Ein Baumstumpf wurde schlankerhand zum Tisch, Äste wurden zu Kleiderhaken. Es gab einen Herd, selbstverständlich, und hier wurde auch gekocht, selbstverständlich. Eine wunderbare Suppe aus Bach- oder Pfützenwasser, Eicheln und Zweigen, sehr nahrhaft, jaja. Manchmal gab es auch einen Sandkuchen zum Nachtisch.
Und das alles war so schön, so magisch, hatte einen Hauch von: so wird es sein, wenn wir erwachsen sind — aber eben auch nur, weil wir wussten: wenn es Zeit wird (18 Uhr bei Katja, 19 Uhr bei Natalie, oder einfach immer auch, wenn es anfing zu regnen), dann müssen, dürfen wir wieder heim, zwischen Wände. Wo eine richtige Mama schon die Miracoli fertig hatte — aus Hartweizen, nicht aus Reisig.
∞∞∞∞ Tasche an Baum ∞∞∞∞∞∞
Und so stehe ich nun hier, gut 30 Jahre später, denke an Natalie und Mathias und Katja, höre ihre kindlichen Stimmen („ich hole noch Blätter für den Salat!“ „Ist gut, ich fege schon mal den Boden“), und fühle mich von Ehrgeiz gepackt, von der Faszination für gerade richtig voneinander entfernt stehende Bäume und Büsche.
Der Mann holt das Auto und beginnt, den Kofferraum auszupacken. Ich inspiziere die Baumstämme, noch meine Handtasche, letztes Zeichen von halburbaner Herkunft, in der Hand. Wohin damit? Etwas unschlüssig, etwas ratlos.
Der Baum dort. Ein Astknuppel, und was für einer. Ich betaste ihn, ich hebe die zwei Henkel der Handtasche an, hänge sie vorsichtig-vorsichtig über den Knuppel.
Hält.
Garderobenhaken in campig-style.
Etwas in mir triumphiert. Das hier, das könnte was werden.
Das Abenteuer kann beginnen.
∞∞∞∞ ARD und ZDF müssen es wissen ∞∞∞∞∞∞
Und es beginnt mit dem, was ich unter allen Umständen vermeiden wollte. Da gab es neulich dieses Filmchen in einem öffentlich-rechtlichen Morgenmagazin. Das ich nie geguckt hätte, hätte meine Mutter mich nicht ganz aufgeregt angerufen: „Du, da kommt gleich ein Beitrag über Leute, die das erste Mal zelten! Was sie richtig machen und was falsch, und was man von ihnen lernen kann und so….!“
Mama.
Ihre Tochter plant eine Abenteuertour großen Ausmaßes, und sie wird offensichtlich und zusehends nervös: Zelten, heute noch, in Zeiten von Booking.com und Glamping, das Mädchen, nee, Mensch, so eine verrückte Idee, und das in ihrem Alter, sind das denn schon ihre Wechseljahre, ist das ein schnell-nochmal-was-Jugendliches-machen-Ding?, oder steckt der Mann dahinter?, sicher steckt doch der Mann dahinter, mit dem geht sie ja neuerdings auch stundenlang wandern; das sieht ihr doch alles gar nicht ähnlich, dieses viele Draußensein, draußen schlafen, wenn es auch Hotelzimmer gibt, auf einer Luftmatratze, wenn es doch auch Hotelbetten gibt, ein Zelt aufbauen, wenn man doch bequem irgendwo einchecken kann. Auf jeden Fall, auf jeden Fall muss sie wenigstens unterstützt werden durch so viel Information, wie nur geht.
Morgenmagazin. Whatever works.
Also gucke ich zehn Minuten lang einer Claudia, einem Stefan, einer kleinen Lea und einem noch kleineren Finn im Superstress zu. Denn, so suggeriert der Beitrag, Zelten ist genau das, vor allem: der Aufbau. „Nee, Claudia, die Stange gehört doch nicht hier hin, sondern dort hin“, „nein, Stefan, das ist doch Quatsch, dafür ist sie doch zu kurz, guck doch mal, die gehört genau hier…“; am nächsten Morgen hat Stefan Rücken und Claudia schlechte Laune; Lea mault und Finn meckert.
Nein, das würde es bei uns alles nicht geben, dachte ich, als ich den Fernseher ausschaltete. Bei uns nicht.
Denn schließlich: Ich bin ein Mensch, der sich gut vorbereitet. Und der Mann einer, der seelenruhig und Wochen vor Reiseantritt ganz Decathlon und Amazon und Globetrotter durchforstet (Werbung wegen Markennennung?, muss ich das jetzt schreiben?…Auch ohne Affiliate-Dingens?), schon dreimal campen war, und mir versichert, er wisse, was er tut.
Ich bin ja sehr vertrauensselig.
Stange 1 passt schon mal nicht. Zumindest nicht auf meiner Seite. „Zieh mal. Jetzt zieh doch mal“, ruft der Mann mir zu, und ich weiß nicht, was konkret er meint. Es stehen zur Auswahl: die Stange. Aber auch: das Textil, durch das sie durch muss. Ebenso ziehfähig wäre: eine Schlaufe, die am Textil herumbaumelt, fast provozierend: zieh mich, zieh mich, und deren Aufgabe sich mir nicht erschließt. Wie sich mir überhaupt dieses ganze Mehrere-Kilo-Gewebe samt Gestänge nicht erschließt. Und das Zelt auch nicht (haha, hat den einer verstanden? Vielleicht lösch ich den auch wieder…).
Plötzlich fällt irgendwas in sich zusammen
Im Ernst: sehr viel olivgrünes Plastik, das mir durch die Finger rutscht, und ein Arsenal an Stangen und Stäben, das ich nur ratlos angucken kann. Ich entscheide mich für Alternative 2, den Stoff. Ziehe ordentlich, ich will ja mithelfen, anpacken, soll ja später keiner sagen, dass… „Doch nicht daa!“, kommt es von der anderen Seite des Textilbergs. Ich hatte eine Eindrittelchance, und die habe ich herzhaft vergeigt.
Irgendwas fällt in sich zusammen.
Es könnte das Außenzelt sein, das Vorzelt, vielleicht ist es auch der Boden, den man womöglich zuerst zusammenfriemeln und dann erst umdrehen und hinlegen muss, was weiß denn ich.
Nun greift Taktik 2: Ich stelle mich dumm. So richtig dumm. Frage nach jeder Anweisung dreimal nach. Was. Wohin. Wie weit. Wie doll.
Warum, könnte ich vielleicht noch fragen, schießt es mir durch den Kopf. Ich lasse es aber. Ich will nur noch funktionieren hier, das Ding zum Abschluss bringen, am Ende ein Dach über dem Kopf haben und uns beide möglichst als Paar erhalten. Bei Stefan und Claudia stand es auch arg, sehr arg auf der Kippe, glaub ich. So oder so: einen Zelt-Aufbau-Championshipsieg strebe ich nicht an.
Obwohl? Der Studiengang Innenzeltaufbau ist fast reizvoll. Denn was für eine Idee: ein Außenzelt zu konstruieren, das den Regen abhält, den Wind, herunterfallendes Baumzeug, das den äußeren Schein wahrt, eine Hausfassade in olivgrün. Innen: eine weitere Zelthaut, die — von innen — mit der Äußeren verknüpft wird. Der Mann spricht von optimalem Luftaustausch, von gutem Klima, von Wärme-Kälteschutz, ich zeige mich (und bin) beeindruckt.
Vor allem das Knüpfen reizt mich, denn dafür braucht der Mann: mich.
Er knüpft von der einen Seite, „halt das mal kurz fest, halt das fest!“, ich bekomme die andere Seite zugeteilt. „Das ist auch gar nicht so schwer“, sagt er noch, es soll vielleicht beruhigend klingen, ich frage mich kurz, ob ich nicht eher beleidigt sein sollte.
Die Knöpfe gehören in die Ösen, so einfach ist das wirklich. Hach, das ist schöne Arbeit, denke ich, mache mich ans Werk. Fange unten an, wie auch er auf der anderen Seite, er kniet, ich höre sein kurzes In-die-Knie-gehen-Stöhnen. Ich knüpfe, und ich bin glücklich. Das ist doch eine befriedigende Aufgabe. Klar, strukturiert, Knopf für Knopf, Öse für Öse, jedem Knopf seine Öffnung, ich achte betulich darauf, auch keine Öse, keinen Knopf auszulassen. Wie bei einer Bluse eben, bei der man ja auch nicht schiefgeknüpft und mit offen klaffendem Loch dastehen will. Ich spiele also mein Talent und meine Ankleide-Erfahrung voll aus, hoffe auf Bienchen und Sternchen, einen bewundernden Blick meines persönlichen Auftraggebers, einen „Was-hab-ich-doch-für-eine-tolle-arbeitsfähige-Frau-Kuss“ am Ende. In jedem Geknüpfe steckt ein Hochmaß an Konzentration, Motivation, ja, nennt es meinetwegen Liebe. Ich bin eine Camperbraut, frohlocke ich, eine wahre.
Da zieht der Mann — wir nähern uns oben aneinenander an, er von links, ich von rechts kommend (keine politische Metapher, nun wirklich nicht) — plötzlich gefährlich am Stoff. Aha, es braucht wieder Spannung, denke ich, das hatten wir ja vorhin erst, beim Außenzelt, und ich bin ja aufmerksam und lernfähig, und das zeig ich auch, denn so ein Diplom will ja erarbeitet werden, erworbenes Wissen muss angewendet werden, dafür gibts, wenns gut läuft, am Ende das Magna cum Laude, vielleicht sogar ein Stipendium für den Post-Graduierten-Gaskocher-Lehrgang, ich muss nur ziehen, Spannung herstellen. Ich ziehe. Ziehe doller.
„Jetzt hör doch mal auf zu ziehen!“, kommt es von links neben mir. Ich höre ein Schnaufen und ein Murmeln. „Hier stimmt doch was nicht.“ Und nochmal „Hier stimmt doch was so gar nicht.“
Das mag ja sein, denke ich, aber nicht bei mir. Bei mir stimmt alles. Jeder Knopf, jede Öse, ich bin eine Innenzelt-Knüpf-Meisterin, angehende Magna-cum-Laude-Graduierte, ja, wie man hört, sogar Gaskoch-Stipendium-Nominierte. Bei mir stimmt jede Öse. „Bei mir stimmt jede Öse!“, verteidige ich also dissertationsgleich mein Werk, trete einen Schritt zurück, bewundere meine symmetrische, wunderschöne Konstruktion.
Ein Eiffelergebnis. Eine gaudí’sche Leistung.
„Aber schau doch hier, die rote Öse muss über den mittigen, zentralen Knopf!“, sein Zeigefinger bohrt sich gegen die Zeltdecke, mittig.
Ein Lehrling ist nur so schlecht ist wie sein Meister.
Rote Öse, rote Öse. Ich denke nach. Und nein: Von einer roten Öse war hier nie eine Rede. Wo kommt die auf einmal her? Wo war die, als wir mit dem Bauprojekt anfingen? Warum hat sie sich nicht zu Wort gemeldet? Äh, hallo, Leute, hier bin ich, der Anfang von allem, der Ursprung allen Leb– und, denke ich so und spüre Ärger in mir hochkommen, warum hat er nichts, aber auch nichts von dieser einen roten Schlaufe gesagt?
Ich beschließe, dass ein Lehrling nur so schlecht ist wie sein Meister, sage ihm das auch. Aber er hört nicht, stupst mich mit kleinen, ungeduldigen Bewegungen ein Stück nach hinten, geht alle Ösen, nach rechts wandernd, nacheinander ab, – „ich zähls mir an den Knöpfen ab“, der Kinderreim kommt mir in den Sinn – landet schließlich am Boden, wieder ein kurzes Ächz, ein kurzes Stöhn, sein Zeigefinger, immer noch mahnend, richtet sich nun gegen den Anfang meines Flechtwerks, wie auf einen Webfehler. „Hier.“ Sagt er. Trompetet es fast. „Das ist doch ganz falsch. Du hast den untersten Knopf mit verbunden.“
Jaa. Ich habe den untersten Knopf mit verbunden. Natürlich habe ich den untersten Knopf mit verbunden. Das MACHT MAN SO. Bei allem, was man tut, mein Freund, bei allem!
Wenn ich Reifen wechsele, lasse ich auch nicht einfach das vierte Rad liegen. Wenn ich meine Nägel lackiere, lass ich auch nicht einfach den kleinen Finger aus. Und wenn ein Innenzelt an ein Außenzelt knüpfe, dann kannst du wetten, dass ich beim allerersten Knopf beginne, wetten kannst Du, WETTEN. Aber ich wollte nicht schreien. Nur so viel noch: „Das nennt man Vollständigkeit. Stringenz.“
„Nein, nein“, stößt er nur hervor, ohne weiter auf meinen Einwand einzugehen, „das muss doch…“, der Rest geht unter, er schiebt mich nun ganz zur Seite, da muss nun ein Ingenieur ran. So etwas darf man einfach nicht einer Geisteswissenschaftlerin überlassen, einer Publizistin schon gleich gar nicht. Seiten umblättern, pah, das geht vielleicht noch grad so, aber das hier, das erfordert…
Ich traue mich noch zu fragen: „Warum?“ Ich meine, „warum muss der unterste Knopf frei bleiben?“ (Ich könnte auch fragen: Warum hast du es mir nicht gesagt?, aber was soll das noch bringen. Es ist spät, es ist warm, wir haben noch fünf Kilo Plastikgewebe zu entwirren und zu verarbeiten, ich halte mich mit kommunikationsbezogener Kritik zurück.) „Ja, damit es oben passt“, sagt er. „Siehst du doch, dass es oben nicht passt.“
„Ich meine doch, wofür muss er frei bleiben? Also: Warum GIBT ES IHN ÜBERHAUPT?“
Eine existenzielle Frage, die, ich gebe es zu, hehe, einen Ingenieur ganz schön verunsichern kann. Komm‘ Du mir mit Knopf-Auslassungs-Theorie, komm ich dir mit Sartre-Existenzialismus. Literaturtheorie contra Bauwesen. Ich könnte das hier noch gewinnen. Aber dann antwortet er.
„Das wissen wir noch nicht. Das werden wir erkennen, wenn wir das Zelt fertig aufgebaut haben werden.“
Verdammt, verdammt. So ein schönes Futur II.
Ich gebe mich geschlagen.
∞∞∞∞ Hör mal, wer hier hämmert ∞∞∞∞∞∞
Dann steht das Zelt. Im Außen wie im Innern. „Jetzt gehts an die Heringe“, sagt der Mann, und ich denke kurz an das Fischrestaurant, das wir bei der Ankunft gesehen haben, das an der Promenade, aber nein. „In dem Beutel da“, deutet er vage in Richtung Taschenberg. Ich hebe jeden einzelnen Beutel an, welchen könnte er meinen, entscheide mich für den blauen, bringe ihn ihm, was soll ich Euch sagen, es ist der falsche. Aber wir beide wundern uns schon gar nicht mehr. Er wünscht sich mehr Fachwissen, ich mir mehr Präzision in der Sprache. Das werden wir später ausanalysieren (na gut, ich). Vorerst sehe ich mein Magna-Cum-Laude schwinden, ich beeile mich also, den „schwarzen!“ Beutel zu holen.
Fast liebevoll sanft holt der Mann die Heringe raus, beschaut sie sich einzeln, nickt anerkennend mit diesem „gute Qualität, gute Qualität“-Blick. Dann stockt er. Runzelt die Stirn. „Der Hammer. Ich habe den Hammer zuhause vergessen.“ Er guckt mich an. Ob ich vielleicht…? Zufällig…?
Wie? Im Handgepäck? Im Kosmetiktäschchen? Ich kann dir in – mit sehr viel gutem Willen betrachtet — so ganz annähernd hammerähnlicher Form anbieten: eine Nagelfeile, ein Wimperntuschebürstchen für extralange lashes, mit, man beachte: spezieller Wimperntrenntechnik, oder auch: einen Kugelschreiber, blau, flowing-ink fast-superdry. Haben wollen?
Er guckt mich kurz an, fragt sich vielleicht, wann und wie das mit uns nur beginnen konnte, so überhaupt, und winkt ab.
Stapft rüber zu dem holländischen Pärchen, ich sehe das Mädchen — jung, bemerkenswert gut gebaut, bemerkenswert strahlend blauer Bikini — losflitzen in ihr Zelt. Mit einem Hammer kommt sie heraus. Sie weiß also, wo der Hammer hä-, haha, aber nein. Ich sags nicht. Vor allem nicht zu dem Mann, der den blauen Bikini ein bisschen zu bestaunenswert findet, so scheints mir. Nein, nein, Romelly, konzentriere dich hier aufs Wesentliche.
Beim Heringe einschlagen braucht der Mann meine Hilfe – nicht. Sagt er jedenfalls. Einen nach dem anderen jagt er in den Boden, klock-klock-klock, arbeitet er sich im Hock-Gang von Einschlag zu Einschlag voran, zieht sich, bei Bedarf, einen Hering nach dem nächsten aus der Tasche, die er sich vorher seitlich um die Hüfte gebunden hat. Wie Legolas in „Herr der Ringe“, denke ich. Gefahr von vorn, Pfeil hervorziehen, anlegen, pffff. Ich komme etwas ins Schwärmen für den in der Hocke kauernden, Heringspfeile zückenden, hammerschwingenden Mann. Nicht wenige Kinder sind im Zelturlaub gezeugt worden, und ich bekomme langsam eine Ahnung davon, warum.
Den Hammer dem niederländischen Bikini zurückbringen mache dann lieber ich. „Lass mich mich nun auch mal nützlich machen“, sage ich dem verdutzt (enttäuscht?) dreinblickenden Mann. Da hab ich grad den Legolas in ihm entdeckt, da werde ich ihn sicher nicht Frau Antje überlassen, nee, nee.
∞∞∞∞ Sunny Teer ∞∞∞∞∞∞
Diana hat ihren Campingplatz im Griff. Zack-zack-zack dreht sie an den Knöpfen, präsentiert, wie die einzelnen Lichter des Sanitärhäusschens an- und auszuschalten sind. Erklärt stakkatoartig und mit fast wegwerfenden Handbewegungen die einzelnen sanitären Parzellen, Damenduschen, Herrenduschen, keine Schuhe bitte, Damentoilette, Herrentoilette, Geschirrspülplatz (lange Reihe, tiefe Wasserbecken), Textilwaschplatz (kürzere Reihe). „23 Uhr ist Licht aus und Ruhe“, sagt sie, und das „R“ rollt durch die Luft, als wolle es Salti schlagen.
Davor hatte ich ja am meisten Schiss (Verzeihung) — eine Woche lang die Sanitärbereiche mit fremden Menschen teilen zu müssen. Eine Woche lang dieses Schwimmbad-Feeling, fremde Haare in Waschbecken, speckige Duschen, Ratlosigkeit, wo das Kosmetiktäschchen hinzustellen wäre, leichter Ekel, das frische Handtuch an einen der Haken zu hängen, wo vorher schon zig andere Handtücher (frisch?) hingen. Das mache ich mal im Hallenbad oder winters in der Thermensauna. Ich ertrage auch fremden Menschengeruch in der Freibaddusche. Aber danach kann ich heim und mir, wenn ich will, nochmal alles, alles abduschen. Hier aber: eingesperrt. Auf einem Open-Air-Gelände.
Dianas gut gemanagter, kompakter weinroter Toiletten-Dusch-Plattenbau aber überrascht mich. Alles sauber, alles gut ausgestattet. Es mangelt nicht an Seife, nicht an Papier. Corona ließ sie Desinfektionsmittelspender aufstellen, in den vier Toilettenbuchsen baumeln Duftbäumchen. Die Fliesen, nun ja, sind braun, wie ich es zuhause nicht ertragen könnte, aber das hier ist schon fast retro-rührend.
Trinkwasser gibt es ohne Unterlass aus kindsgroßen Holzfässern, in einer Tieflkühltruhe am hölzernen Gesellschaftspavillon lagert Eis. Sonst, so erklärt sie uns – und sonst heißt in diesen Zeiten immer: vor Corona – gab es jeden Abend frisch Gekochtes hier am Pavillon, Gegrilltes, eine provisorische Bar auch, Geselligkeit. Corona machte damit Schluss, zu aufwändig wären die Auflagen der kroatischen Regierung für einen Gaststättenbetrieb dieser, wenn auch kleinformatigen, doch nur den Campingbetrieb begleitenden und damit fast provisorischen Art. Klar, gibt weniger Einnahmen so, sagt Diana und blinzelt in die Sonne. „Aber“, und schon breitet sie seitlich die Arme aus und lässt sie mit einem lauten Klatscher wieder auf ihren Körper fallen, „hab‘ ich mehr Zeit für mich!“
∞∞∞∞ Luftikus ∞∞∞∞∞∞
Zelt steht. Fürs Bett aufpumpen werde ich eingeteilt. Das ist anstrengend und kein schöner Job. Der Mann hat Mitleid, und sagt irgendwann: Ach, das reicht doch nun auch, so stramm muss das ja auch nicht sein. Ich freue mich, weiß aber auch noch nicht, dass mein Steißbein dafür in dieser Nacht wiederholt auf kroatischen Waldboden aufdotzen wird.
∞∞∞∞∞∞ Voll insta, ey ∞∞∞∞∞∞
Entzücken, als ich meinen Schlafsack (emotionslos eine Woche vorher im Netz gekauft, nicht verglichen, nicht wochenlang „in mich hineingefühlt“ wie sonst vor jedem Kauf (ich bin so, was soll ich machen), noch nicht mal Bewertungen gelesen, sondern nur geguckt, Preis mit Kontostand abgeglichen, machbar, „in den Warenkorb“ – und ja, daran kann man viel, viel über meine Camping-Euphorie ablesen), also, wo war ich? Ja, Entzücken also, als ich ihn aus dem Verpackungsbeutel ziehe und feststelle: Er ist ja Ton!-in!-Ton! mit des Mannes Zelt! Olivgrün meets olivgrünlich-grau. Als wäre ich eine Instabraut, die sich vorher detailreich mit dem Mann abgestimmt (äh, oder ihn gar instruiert hätte: Nee, Du, Schahatz, schwarz kommt aber auf Fotos gar nicht gut rüber, und zu meinem Schlafsack passt das auch nicht, schau doch mal, ob du was pastelliges findest, da muss dann auch nicht der Filter so arg sein, nein, ich spreche nicht von einem Luftfilter, du, ich spreche von, ach, ist schon gut. — Sprechen Instabräute so? Ich hab so selten bei IGTV-Snippets den Ton an) hätte (ja, hier fehlte tatsächlich noch ein hätte).
„Guck mal!“, ruf ich dem Mann nun aber dennoch zu, er soll an meinem Entzücken teilhaben, auch wenn er gerade mit zwei Stäben (wo kommen die jetzt noch her? Ist nicht endlich mal gut jetzt mit all dem Gestängezeugs?) hantiert, halte Schlafsack gegen Zeltdach, „Ton in Ton!“, er guckt zu mir, dann zu Schlafsack-Zeltdach-Ensemble, nickt, weil er weiß, dass er muss, nicht, weil er versteht, und guckt wieder auf die Stäbe. Im Innern freut’s ihn auch, ich bin mir sicher.
∞∞∞∞∞∞ Alles anders ∞∞∞∞∞∞∞∞
Es ist ein immenser Systemwechsel (sind Systemwechsel je etwas anderes als „immens“?), wie ich rasch feststelle. Auf einem Zeltplatz muss alles neu gedacht, neu erfühlt, neu verhandelt werden. Geht das? Geht jenes? Wie organisiere ich mich? Wie verhalte ich mich? Und wer guckt mir dabei zu?
Ich suche nach Vergleichen zu meiner derzeitigen Umwälzlage und denke an: Umzüge in eine neue Stadt, ein neues Land. Plötzlich braucht es neue Regeln und Verfahren; was eben noch ging oder galt, ist nun obsolet. Wie sind die Gepflogenheiten, wie funktioniert hier das Miteinander, das Gewebe der Menschen untereinander, wodurch wird es gehalten, und wann öffnet morgens der Bäcker? Guckt der so, weil er mir böse ist? Oder guckt der so, weil hier alle so gucken und ein Paradiesvogel wäre, wer nicht so guckt? Ein anderer Systemwechsel, der mir einfällt: Der Fall oder Sprung ins Singleleben nach einer langen Beziehung oder vice versa. Welche Regeln gelten, hier wie dort?
Jede Lebenswelt hat ihre eigenen Gesetze und Verhaltensgebote, und man muss selbst, weil einen ja keiner einweist – hier: die Gebrauchsanweisung, nun lies und mach alles richtig –, langsam und tastend seinen Weg finden. Wie in einem neuen Computerspiel (so, das war nun das dritte Vergleichsmodell, ich hör jetzt mal damit auf), bei dem man auch erst nach dem zweiten, dritten Mal Game over weiß: ah, das blaue Monster ist also das böse, das frisst mich, beim Kontakt mit dem roten gibts aber Punkte.
Zurück zum Zeltplatz wollt ihr? Ja, dann los. Also: Wie geht das hier? Ich bin so ein Abendduscher, zum Beispiel. Aber hänge auch gern noch, zuhause oder, ha, im Hotelzimmer eben, in meinem Handtuch eingelümmelt herum, lasse mich peu a peu trocknen, bevor ich in den Pyjama wechsele. Nun. Die Frage: Geht man hier, nach erfolgter Dusche, in ein spärliches Handtuch gewickelt, fröhlich über den ganzen Zeltplatz zurück zur eigenen – olivgrünen samt Ton-in-Ton-olivgrünem (!) Schlafsack, ich wollte es nur nochmal sagen – Behausung?
Unterliegt ein Zeltplatz also quasi denselben freizügigen Regeln wie, sagen wir, eine Freibadwiese? Oder hat man stets (wenn schon nicht ordentlich, aber doch wenigstens:) angezogen zu sein? Ziehe ich also nach der Dusche nochmal meine alten, verschwitzten Klamotten an, bevor ich die Sani-Anlage verlasse, oder meine frischen, aber arg pyjamaartigen (man könnte nur mit gutem Willen sagen, Achtung:) Loooouunge-Klamotten? Oder nehme ich gar eine dritte Option an Kleidung mit, ein Set Außerhaus-Kleidung, aus der ich mich dann wieder schäle, wenn ich wieder am Zelt bin? Was ein Quatsch doch, oder?
Ich entscheide mich fürs Handtuch, come on, people, wir haben alle schon mal alles gesehen. (Aber doch: Was bin ich für ein Rockstar.)
Aber dann: Gehe ich nun den Hauptweg, den vorgezeichneten, befestigten Pfad zurück zum Zelt, auch wenn er Umweg ist? Oder darf ich mir querzeltein einen Weg durch die einzelnen Parzellen hindurch bahnen, durch Wäscheleinen hindurch, geduckt unter tropfenden Badehosen, Fleecehandtüchern und fleischfarbenen Cup-D-BHs, vorbei an Camper 1, der freundlich grüßt, vorbei an Zelt 3, wo die Familie noch beim abendlichen Mau-Mau sitzt, einer nach dem andern verstohlen aufschaut und schnell wieder auf die Karten? Und wie grüßt man, während man links Duschgel und Shampoo und rechts oben das Handtuch zusammenhalten muss? Ich nicke jedenfalls betont heftig und grinse breit, winken geht ja nicht, und ja, schlimm muss das aussehen in Kombi mit den weiß-grauen, eng gewickelten Frottees um Körper und Haar (jaa, Turban. Ich dachte, komm, nichts zu verlieren hier).
Überhaupt: Schwer zu ermitteln, welche Grußregeln gelten: Ist es erwünscht, dass man bei jedem Zelt, an dem man vorbeikommt, hinsieht, zu den Bewohnern, nett hallo sagt oder zumindest zunickt? Oder ist das zu privat, gar, oh weh, übergriffig? Schaut man lieber betreten und verlegen auf seine Füße, während man vorbeischreitet, man will ja niemandem etwas abgucken, die sollen nur in Ruhe ihre kroatischen Gurken und mitgebrachten holländischen Tomaten futtern, nein, nein, ich will auch gar nicht spannen – und gilt dann aber als kontaktscheuer Kauz, Käuzin?
Hach, das schlaucht. Das schlaucht so ungemein. Ich lasse mich erschöpft in den Campingstuhl fallen. „Ist es nicht toll, wie man sich darin anlehnen kann?“, sagt der Mann da, den es gar nicht zu überraschen scheint, dass ich so erholungsbedürftig aus der Dusche komme, „da gab es nämlich noch andere Stühle, mit nicht so hoher Rückenlehne, aber ich dachte mir, nee, Kopf anlehnen muss sein. Camping kann anstrengend sein, weißt du.“
Ach was?
Vielleicht ist das auch ein Frauending, sich um solche Befindlichkeiten und Verhaltensregeln Gedanken zu machen, bestimmt ist es das. Der Mann jedenfalls kann all meine Überlegungen nicht so recht nachvollziehen. „Guckste halt mal hin, und mal halt nicht, sagst mal hallo, und mal nicht. Es gibt hier keine festen Gesetze.“ Hm. „Und in deinem Handtuch, sagt er noch und guckt dabei so spitzbübisch, wie nur er es kann, „siehst du doch ganz schnuckelig aus.“ Den Turban erwähnt er nicht. Besser so.
∞∞∞∞∞∞ Peng, Shui! ∞∞∞∞∞∞
Oh, und dann bemerke ich plötzlich etwas, oh, nein, oh nein, und ich überlege, ob ich es noch wegdrücken kann, ob ich es auf meine Spießrutenlauferschöpfung schieben kann, ob es vielleicht noch vergeht, aber nein, es ist stärker und es ist echt: Unser Platz stimmt nicht. „Wie, stimmt nicht?“, fragt der Mann, und er hat ja recht. Alles gut hier, eigentlich: Ein Platz unter Bäumen, vor der Sonne sind wir geschützt, vor zu intensiven Blicken von Nachbarn ebenso, denn die sind alle in reichlicher Entfernung (auch so eine Corona-Erscheinung: Dianas Campingplatz ist nur zu einem Viertel ausgebucht), auch der Eingang/Ausgang ist recht nah, wir haben es also nicht weit zu unserem vor den Toren des Camps parkenden Auto. „Also, was stimmt nun nicht?“
Wenn ich jetzt sage: „Die Energien“, dann hält er mich wahrscheinlich für eine esoterisch durchgespülte Yogamaus, die einmal zu häufig ihren Kopfstand geübt hat oder kräftig unter Sojamilch-Entzug leidet.
„Die Energien“, sag ich, denn es ist ja wahr, cope with it. Kurz schaut der Mann erschrocken auf den Stromverteiler, den Diana uns hingestellt hat, aber wir sind lange genug (wenn auch noch nicht so lang…) ein Paar, dass er seinen Irrtum schnell bemerkt. Nee, hier geht es nicht um Watt und Volt, hier schlägt was ganz anderes seine Volten. Er muss nur herausfinden, was. Er guckt in mein Gesicht, kann er etwas lesen, etwas erkennen, was meint die Frau nur wieder? Er fragt nicht, sie wird schon von selber reden, das war bis jetzt noch immer so, leider, könnte er nun denken, aber das verbietet er sich schnell, nur nicht gemein werden, nein, auch nicht in Gedanken. „Ja, irgendwie…“, sagt sie — und oh nein, denkt er, sie sagt „irgendwie“, das ist so typisch wie unpräzise, damit kann ja niemand je was anfangen, und was dann folgt, ist meist auch nicht viel konkreter oder hilfreicher, „sind hier komische Schwingungen rund um unser Zelt, ich weiß nicht“. Weiß nicht, sie weiß also nicht, ja, aber anfangen musste sie mit dem Thema, oder was? Ohne nun viel weiter zu wissen? Und ich, was soll ich damit anfangen, soll ich überhaupt etwas damit anfangen? Erst mal abwarten, vielleicht kommt ja noch mehr, und bis etwas kommt, lehne ich mal meinen Kopf schön an, ach, tut das gut, wie gut, dass ich diese Stühle bestellt habe, die mit der Rückenlehne und nicht die anderen, die zwar auch eine stabile Qualität aufweisen, aber …oh, sie atmet tief ein, wahrscheinlich geht es jetzt weiter, also?
„Also, man sitzt hier so… komisch. Der Zelteingang geht so nach vorne raus statt seitlich, und der Tisch und die Stühle stehen in keinem guten Winkel, das ist einfach nicht gemütlich. Nicht nach Feng Shui, zumindest.“ So, nun war es raus. Natürlich war mir klar, dass er damit nicht viel anfangen kann.
— Ist ihr eigentlich klar, dass ich damit gar nichts anfangen kann? Peng, was?
Deswegen schob ich hinterher: „Aber du, das musst du nicht verstehen, und du musst auch gar nichts machen, ich überlege mir was.“ Und tatsächlich tat ich das: Wie ließen sich Stühle und Tisch so hinstellen, dass unser ganzes Zelt-Möbel-Equipment-Ensemble etwas heimeliges gewann? Dass ich sagen würde können, nach einem Tag am Meer oder einem Ausflug, hach, nun heim, ans und ins Zelt? Und nicht so ein Gefühl der reinen Aufbewahrung unserer Körper haben würde? Denn so fühlte es sich gerade an: Wir haben da ein – immerhin schönes – Zelt, nettes Mobiliar (Mann: „da wackelt doch nichts, oder?“), aber es fühlt sich an, als hätten wir all das auf einem Parkplatz vor einer Wohnanlage abgestellt. Als hätte ich den Schlüssel zu unserem Haus verloren und müsste nun deshalb davor auf der Straße campieren. Hinter uns eine Mauer, die uns von einer kleinen Durchfahrtstraße trennt, an der Straße: Wohnhäuser, drei Etagen hoch, wir haben direkten Blick auf sie, auf die Zivilisation, von der ich mich nun plötzlich ausgestoßen fühle, hier in mein Handtuch gewickelt, auf einem orange-grauen Campingstuhl (der wirklich nicht wackelt), die Füße in Flip-Flops auf lehmig-krümeligem Boden. „Draußen vor der Tür“. Ausgesperrt.
Jetzt im Ernst: Ich bin kein Luxusei, wirklich nicht. Aber ein Stück Heimeligkeit hätte ich eben gern, eine kleine Chance auf ein Sich-zu-Hause-fühlen, wenn man schon eine ganze Woche hier verbringt. Da hilfts auch nichts, dass meine Handtasche so fein und unverrutschbar am Astknuppel baumelt (übrigens immer noch, ich hatte sie glatt vergessen, der Mann machte mich drauf aufmerksam; das gibt wieder Punktabzug bei der Abschlussnote nachher).
Wir finden nun — es ist schon spät, es ist dunkel, und ding-dong, gehen ohnehin um 23 Uhr, wie Diana versprochen hatte, alle Lichter aus — keine Lösung, aber ich nehme mir vor, den Schwung des ersten Morgenkaffees zu nutzen und unser neues Heim neu auszurichten. Wir legen uns hin, und kurz bevor mein Steißbein unsanft den kroatischen Waldboden berührt, drückt mein Mann mir einen Kuss auf den Mund und sagt: „Ich finde es toll, dass du unserem Platz etwas Peng-Schu geben willst.“ Ob Campen für mich das passende ist, weiß ich noch nicht. Aber den Mann hier, den hab ich mir schon mal richtig ausgesucht.
∞∞∞∞∞∞ Zug-UmZug ∞∞∞∞∞∞
Am nächsten Morgen stellen wir zweierlei fest: Das Zelt steht morgens … in der Sonne. Was wir nun wirklich nicht wollten. Die Winkel der Bäume, den Lauf der Sonne hatten wir falsch kalkuliert (neben Hammer auch Geodreieck zu Hause vergessen, und das hatten die Holländer nun wirklich nicht auch noch dabei), wie konnten wir auch ahnen, dass die Sonne morgens um neun nicht höher stehen würde, also höher als Steineiche Nummer 1-links-a? Im heißen, kroatischen Scheinwerferlicht also frühstücken? Nein. Zweitens: Der Mann hat kaum schlafen können. Stichwort: nah am Eingang, heißt auch: nah an der Straße. Die Straße ist schmal und klein, wie das ganze Dorf hier schmal und klein ist, aber auf ihr fahren wollen des nachts wohl doch einige.
So kann es also nicht bleiben, beschließe ich und beobachte nach dem Frühstück – der Mann ist kurz mal unterwegs — interessiert die Erzis. Sie packen, so scheint es. Stück für Stück ihrer Ausrüstung landet im Camper, sie hängen die Wäscheleine ab, springen nochmal alle zusammen in den Pool, dann in ihr Riesenfahrzeug, starten den Motor, fahren an mir entlang zur Ausfahrt.
Ich blicke: auf einen freien Platz unter schattigen Bäumen, direkt neben dem Gemeinschaftspavillon, der ja aber in diesen Wochen nicht genutzt wird, dessen Bänke und Tische aber Aufbewahrungsmöglichkeiten versprechen. Sachen! Ablegen! Können! Ohne Kontakt mit Erdkrümeln!
Ich verlasse meinen Platz an der Mauer, gehe vorsichtig zum frei gewordenen Platz. Genauer: zu zwei nebeneinander freien Plätzen, denn auch der Mittelplatz, wo letzte Nacht noch ein slowenischer Camper stand, ist heute wie von Zauberhand leer. Ich stelle mich mitten auf, schau nochmal schnell um mich, ob nicht der Mann schon wieder zurückgekehrt ist und mein esoterisches Treiben beobachten könnte, aber nein, Luft rein — schließe die Augen und spüre hineeeiiin…
Wie schön, wie unendlich schön. Hier weht ein freundlicher Wind, man blickt auf zwei Olivenbäumchen, auf den Pool, auf rosa Fuchsien, hat quasi einen richtig floral-mediterranen Vorgarten, wenn man das Zelt richtig aufstellt.
Das Zelt. Oh Gott.
Es müsste abmontiert, losgelöst, hierher transportiert werden. Und all der Kram (Mann: „Romelly, brauchst Du das wirklich alles?“) mithin.
Hier könnte ich die Camperin werden, die ich so gern sein würde.
Aber schau: der Pool so nah, sein Anblick Sea-View-gleich, auch das Sani-Haus ist näher, der Slalomlauf unter Wäscheleinen des nachts entfällt, selbst die Straße, außen, vergessen hier.
Hier könnte ich endlich zu der Camperin werden, die ich so gern sein würde.
Der Mann kommt heim vom – Jagen, bin ich versucht zu sagen, tatsächlich war er kurz schnorcheln, ohne Beute, klar, und ich baue meine Argumentation auf. Lasse geflissentlich Wörte wie Chi und fließende Energien und Vibrations weg, zeige stattdessen auf Wind- und Schattenverhältnisse, mache ihn horchen: die Straße, merkst du?, kein Laut!
Der Mann guckt so fachmännisch, wie er es eben immer tut, lässt sich etwas Zeit (macht er das extra? Ist das Spannungsbogen auf Ingenieurs-Art? Stephen King in Wirtschaftsinformatiker-Style?), da sehe ich aus den Augenwinkeln Diana durch den Camp-Eingang kommen, mit einer Horde neuer Camper im Schlepptau. Sie zeigt hierhin und dorthin – und auch auf unseren neuen Traumplatz. Schnell, schnell, lieber Mann, unser Zeitfenster schließt, und es schließt bald…
„Dann packen wir’s.“
Mein Herz tut einen Sprung, ich knutsche den Mann kurz, der nicht weiß, wie ihm geschieht, für mehr Küsserei ist keine Zeit, die Horde ist im Anmarsch. Ich renne zurück zum Platz an der Mauer, hole blind zwei Taschen aus dem Vorzelt, irgendwelche, die ich gerade eben so schnappen kann, renne zum neuen Platz, werfe sie hin. Unser! Keine Minute zu früh. Diana kommt mit der Horde vorbei, fragt knapp: „Umzug?“ Ich so: „Ja!“ „Aha, na dann, gut, gut.“ Pfuoooah. Das war knapp.
Es ist traumhaft. Der Umzug ging vergleichsweise geschmeidig vonstatten, das Zelt einmal angehoben, samt inneliegendem Luftbett und Boden und Schlafsäcken, rübergetragen, die Heringe neu eingeschlagen. Und nun, herrlich: Wir haben Schatten, lauen Wind, ich habe darauf geachtet, dass wir Zelt und Gestühl so ausrichten, dass – Euch kann ich es ja sagen – die Energien richtig fließen. Huuuh.
We have moved. Neue Adresse, falls uns jemand schreiben will: Unter den Olivenbäumen 2.
∞∞∞∞∞∞ Guck mal, so schöne Leute ∞∞∞∞∞∞
Wir leben uns schneller ein als gedacht. Am Anfang gibt es noch einige Fragen. Wie geht man etwa mit all der braunen, krümelig-lehmigen Erde um, die sich bald überall hinschummelt, drunterschmuggelt (wegpusten, wenn’s geht. Wegatmen. Auch gut. Ohhm…)? Oder mit den Ameisen, die erst über den Tisch krabbeln, bald über deinen Löffel, über dein Brot. (Namen geben, jeder einzelnen, das schafft Vertrauen und Nähe. Hilde, Meisi, Mutziputzi. „Wir haben jetzt Haustiere“, sage ich zu dem Mann. Er grinst, fegt unsere Haustiere weg. Ich werde das mit einem gemeinsamen Hund nochmal überdenken müssen).
Fremde Leute um einen herum, die ganze Zeit. Deren Büstenhalter man im Wind wehen sieht und deren Geschirr man samt Essensresten in der Spülzone betrachten kann, deren Gewohnheiten man Tag für Tag mitbekommt, deren Zelt man auch mal nachts wackeln sieht.
Diese Fremden um einen herum sind wohl das Gewöhnungsbedürftigste am Zelten. Vor allem, die Frage bleibt: Wie kontaktfreudig (oder -leidig) begegnet man ihnen? Grüßt man jeden freundlich, auch morgens, im Sani-Bau, wenn der Zahnpastaschaum gerade aus dem Mund quillt, man eigentlich am liebsten selbst gar nicht wahrgenommen werden will? Stellt man sich neuen Leuten vor, ordentlich mit Namen, Herkunft, Zeltmarke und -farbe (I bin der Heinz, rotes Zelt, das mit dem Flicken, icke die Berta, blaues Zelt, datt da drüben, jaja, im Internet gekooft, hatte Top-Bewertungen) Oder ignoriert man sich geflissentlich? Um sich Raum zu geben, Privatsphäre?
Wir geben klammheimlich auch ihnen Namen, denn sich namentlich vorstellen, nein, das macht man hier augenscheinlich nicht. „Trulla“ heißt somit die Frau, die hier nach einem verhagelten Slowenien-Urlaub gestrandet ist und jedem ungefragt ihre Lebensgeschichte erzählt, ich finde sie ja nett und lustig, der Mann hingegen ein bisschen verschroben, er gab ihr den Namen. Marianne taufe ich im Stillen die, die stets mit Bikini duscht, Tanja die, die keine Klobürste benutzt. „Ellas Mutter“ nennen wir die, die hier alleine Urlaub mit ihrer Tochter macht und ständig nach ihrem Sprössling ruft. Dann: die „Illmenauer“ (das Kfz-Zeichen verrät’s), die „Senioren“ (graumelierte mit Mini-Zelt im Eck), und natürlich: der blaue Bikini (die nur ich so nenne, keine Ahnung, wie der Mann sie klammheimlich nennt, heiße Schnitte oder so, ich will’s auch gar nicht so genau wissen).
∞∞∞∞∞∞ Ausgebüxt ∞∞∞∞∞∞
Dass wir uns bald eingelebt haben, merken wir vor allem dann, wenn neue Leute kommen. Etwa heute Mittag, ich hatte mir von Diana einen Handfeger ausgeliehen, hockte im Vorzelt, versuchte, den Boden von allerlei Erdkrümeln und Blätterchen zu befreien – ich hatte das ja alles schon liebgewonnen, es ist eben Natur -, ich schwitzte, aber gleich würde ich in den Pool springen, wie herrlich das alles, und wie entspannend das Fegen, wie meditativ, da guckte ich auf und sah einer Frau in die Augen. Adrett gekleidet, von Schweiß keine Spur, ihre Sandalen frisch und farbenerkennbar (meine waren längst lehmbraun). Die Frau sagte etwas zu ihrem Mann in einer Sprache, die ich nicht verstand, er guckte zu mir, lächelte. Ich fühlte mich merkwürdig ertappt, ertappt bei einem RTL2-Camper-Dasein-Genießen. „Ich bin eigentlich ganz anders“, wollte ich ihr hinterherrufen, „ich kann auch adrett und geduscht und gepflegt, und Ihre Sprache lerne ich vermutlich innerhalb von drei Monaten an der VHS, wirklich, Intensivkurse, die meistere ich mit links, ich bin wirklich klug, ich hab‘ sogar das, hören Sie mich?, das Post-Graduierten-Campingkocher-Diplooom!“, aber sie war schon weitergegangen, ließ sich von Diana zack-zack-zack das Sanihäuschen erklären. „Und meine Schuhe, jetzt hören Sie doch!, sind eigentlich smaragdgrüüün!“
Der Mann, von seiner täglichen Schnorcheltour heimgekehrt, fand mich später am Textilbecken, meine Sandalen schrubbend. „Nanu, lohnt sich das denn schon? Wir haben doch noch ein paar Tage hier.“ „Es lohnt sich immer“, stieß ich zwischen zusammengepressten Lippen hervor, das Schrubben strengte an, „immer.“ An diesem Nachmittag verließen zwei blitzeblank gesäuberte, gut duftende und munter gelaunte Camper den Platz, zogen den Reißverschluss ihres Zelts zu, sagten noch eben ihren Haustieren, Ameise 1 und Ameise 2, adieu, wir sind bald wieder da. Mein wunderschönes rotes Kleid mit weißen Punkten wehte im kroatischen Sommerwind, der Mann trug ein Shirt, das er im ganzen Urlaub noch nicht anhatte und von dem er weiß, dass ich es an ihm mag, wir fuhren in eine nahegelegene Küstenstadt, bestaunten die schmucke Kirche, die hübschen Sträßchen, aßen gepflegt an der Promenade, Goldbrasse mit Zitrone, tranken Wein, stiegen in ein Boot, das uns – im Sonnenuntergang – zu fröhlich springenden Delfinen hinaustuckerte. Ein Eis zum Abschied. Alles sehr Arte, sehr 3sat, sehr WDR-„Wunderschön“, das. Und nun? Auf dem Rückweg noch woanders halten? Noch ein Absacker irgendwo? „Ach, lass uns heim zu unseren Olivenbäumen, auf unsere Lehmboden-Terrasse“, sagte der Mann. „Ja, und gucken, ob unsere Ameisen noch da sind“, sagte ich, überraschend ironiefrei. Daheim ist es doch am schönsten. Nun strecken wir uns aus in unseren Stühlen, öffnen noch zwei Büchsen Bier, genießen die Ruhe. Meine Sandalen glänzen im Mondlicht. Smaragdgrün – mit wieder ersten wunderschönen lehmbraunen Pünktchen.
∞∞∞∞∞∞ Platz! Regen! ∞∞∞∞∞∞
Der Regen kam nicht unerwartet. Das kann nun wirklich keiner sagen. Diana schaute als erste zum Himmel, blinzelte, „da könnte etwas kommen“. Der Radverleiher, der uns hektisch sein Smartphone unter die Nase hielt, Regenradar, hier, sehen Sie, ein Zyklon, ein Zyklon! Der nette Bistrobetreiber, Bayern-München-Fan (trotzdem nett), der schon mal die Sitzkissen reinräumte.
Nein, kann keiner sagen, wir seien nicht gewarnt worden. Als die ersten kleinen Tropfen fallen, gehe ich gerade seelenruhig unter die Dusche. Als ich herauskomme, pfeift es so stark ins Sanihäuschen, dass ich mich im Klo verstecken muss. Den Regen, der von Minute zu Minute stärker wird, treibt es da schon waagerecht in die Anlage. Ich warte, warte weiter, bei dem Sturm kann ich nicht zurück zum Zelt. Ich warte, warte weiter. Was wohl der Mann gerade macht? Hat er sich ins Auto gerettet? Oder Unterschlupf im Pavillon gefunden? Ist der eigentlich dicht (der Pavillon)? Ist der Mann nun sauer, weil ich – Langduscherin, die ich bin – es nicht mehr rechtzeitig rausgeschafft habe, wir wollten doch gemütlich essen gehen, ach, mensch. Und Hunger wird er haben, Hunger!
Kurz, ganz kurz lässt der Sturm etwas nach, ich traue mich aus dem Kloeingang raus, umrunde immerhin eine Wand des quadratischen Häuschens, weiter komme ich nicht, denn da stürmt es von Neuem los. Aber von hier aus habe ich nun einen Blick, zumindest, wenn ich mich recke und strecke, auf unsere Parzelle. Ich sehe den Mann nirgends. Oh Du Lieber, wo bist Du? Hast Du dich retten können? Was fühle ich mich getrennt von Dir…
Aber rumpelt und pumpelt da nicht etwas in unserem Zelt? Da bewegt sich doch etwas, oder nicht? Plötzlich sehe ich etwas, da erhebt sich etwas aus unserem Zelteingang hervor, etwas Schwarzes. Es ist der Mann, in seiner regen- und windabweisenden Allwetterjacke. Die habe ich seit Monaten nicht an ihm gesehen, wusste gar nicht, dass er die dabei hatte, aber er ist eben campingerfahren, da zeigt es sich wieder. Er schaut um sich, schaut zum Sani-Bau, sieht mich da stehen und rennt auf mich zu. Ist er sauer, ist er ungeduldig? Je näher er kommt, mit fliegender Allwetterjacke, denn zugemacht hat er sie nicht, desto mehr versuche ich, in seinem Gesicht zu lesen.
Aber nein, aber nein. Was mir entgegenspringt, ist ein gut gelaunter Allwettermann, der nicht fassen kann, was da gerade passiert, der das aber alles immens spannend findet. Endlich, das Abenteuer, das zu jedem Campingaufenthalt gehört, endlich, eine Herausforderung, die es zu meistern gilt! Er fliegt mir förmlich entgegen, die Augen weit aufgerissen. „Mann, ist das ein Sturm!“ Er grinst. Grinst er etwa? Doch, doch! Ich bin erleichtert, dass er nicht sauer ist auf seine Langduscherin, daran denkt er gar nicht, zu aufregend ist das alles hier. „Unser Vorzelt ist fast abgesoffen“, freut er sich. Nun, nein, das wäre zuviel gesagt, freuen ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber traurig oder entsetzt scheint er mir auch nicht. „Ein paar Taschen haben was abgekriegt, aber ich habe nun alles ins Innenzelt geräumt. Wollen wir hoffen, dass es da trocken bleibt.“
In meinem Kopf rattert es: Taschen nass geworden, Mist, welche wohl? Was war da drin? Und: Nasse Taschen nun im Innenzelt, Hilfe, Innenzelt heißt Bett, was anderes ist da ja nicht drin, der ganze – ähm- „Raum“ wird nur von einem eingenommen: der Matratze. Heißt das jetzt: nasse Taschen, dreckige Koffer, Erde, Krümel, Ameisen – alles in unserem Bett?
Aber ich liebe meinen Mann, wie er da vor mir steht, unser Hab und Gut gerettet hat, und ich liebe ihn noch mehr, als er einen – Regenschirm! hervorzaubert, hinter seinem Rücken, einen manngroßen, stabilen, nicht wegzuwehenden (gut… grauen und mit Automarke versehenen) – Schirm zückt. Er hakt mich unter, wir zwei unter dem wunderschönen Schirm einer skandinavischen Automarke, geleitet mich zum Zelt, wo ich in andere, ja, auch nasse, Schuhe schlüpfe, mir den Handtuchturban vom Kopf reiße, wir segnen kurz das Zelt, hoffen, es steht noch, wenn wir wiederkommen, und gehen – essen. In unserem nahegelegenen fußläufig erreichbaren wunderbaren Lieblingsrestaurant. Was soll man auch sonst tun. Während wir kauen, gehen wir kurz unsere Möglichkeiten durch. Reisen wir heute schon ab? Geht das so klammheimlich, ohne Diana Bescheid zu sagen? Wie sollen wir sie dann nachträglich bezahlen? Barkasse bei Abreise war ausgemacht – aber wenn sie nicht da ist, zu dieser Tageszeit, bei diesem Unwetter? Selbst wenn wir abreisen, nun, am späten Abend, wo wollen wir hin? In unser nächstgeplantes Reiseziel, 100 Kilometer von hier? Wo wir eigentlich erst zwei Tage später eintreffen wollten? Ich checke unser Hotel (hach, Hotel, was war das noch gleich?): Ja, wäre noch was frei. Aber wir wollten doch morgen nochmal runter zum Kap, ein letztes Mal wunderschönes Meerfeeling erleben, und morgen soll doch nochmal die Sonne scheinen, und…
Wenig später hat der Regen nachgelassen, wir kehren zurück, und tatsächlich: die Wassermassen haben uns Zelt verschont. Um das Zelt herum fließen kleine Bächlein aus Regenwasser hinab, aber wie durch ein Wunder („durch eine Erhöhung im Boden“, wie der Mann erklärt) ist unser Schlafplatz trocken geblieben. „Wir bleiben also?“ „Wir bleiben.“ Die Hotellerie kann noch etwas auf uns warten.
∞∞∞∞∞∞ Hang loose ∞∞∞∞∞∞
Die verbleibenden Stunden bis zu unserer Abfahrt vom Platz bringe ich damit zu, feucht gewordene Kleidungsstücke aufzuhängen. Auf der Leine einer sächsischen Wäschespindel, von unseren Nachbarn geliehen, und – als diese 3,5 Meter nicht mehr ausreichen – auch auf Zweigen und Ästen und den Sitzbänken unseres (mittlerweile angeeigneten) Pavillons. Ja, der Regen hat unser Zelt, unser Hauptzelt, verschont, was aber vorher, im Vorzelt, so nass geworden ist, waren vor allem meine Stoffbeutel mit: getragener, also mithin dreckiger Wäsche. „Du hängst jetzt also wirklich deine Schmutzwäsche auf?“, fragt der Mann, und ich zucke mit den Achseln. Was soll ich tun? Sie schimmeln lassen? Er könnte mir nun vorwerfen, dass ich die Beutel doch längst schon, lange vor dem Regen ins Auto hätte bringen können, was sollen sie auch hier, im Zelt, wofür, warum? Aber er schweigt, und das ist gut so. Ich zelte – immer noch – das erste Mal; und auch wenn sich unser Zeltexperiment so langsam dem Ende zuneigt, Booking.com mir schon ganz aufgeregt Nachrichten schickt zu unserer Hotelübernachtung in zwei Tagen, beanspruche ich doch immer noch Welpenschutz hier, bittschön.
∞∞∞∞∞∞ Abg(es)ang ∞∞∞∞∞∞
Sieben Tage gezeltet, und was bleibt?
Erkenntnisse: Nicht jeder Mensch ist im Umgang mit Klobürsten vertraut (nein, es gibt keine Zufälle, es waren, zumindest hier, immer dieselben Menschen); eine Wäschespindel heißt so, weil man sich an ihr stechen kann (im Ernst, sie flog halb auseinander, ich versuchte, sie wieder zusammenzustecken, und iiiitzsch, hatte ich einen Nagel im Daumen. In dieser Nacht habe ich wirklich sehr, sehr, sehr lange geschlafen. Genau, erraten. Bis der Prinz, der erst noch durch die Dornenhecke musste, mich wachküsste.); Handseife aus dem Toiletten-Spender kann Spüli ersetzen; ein Allgemeinheitsklo kann Beziehungsstress lindern: Er will aufs Klo, sie aber duschen oder andersrum? Oder auch: er duschen, sie aber sich schminken? Im engen Hotelzimmer großer Stressfaktor — aufm Zeltplatz alles kein Problem; ein Gasgrill ersetzt auch mal das Lagerfeuer; eine Luftmatratze kennt beim Aufpumpen kein Limit. Du denkst, du hast das Limit erreicht? Träum – und pump – weiter!
Das Schönste aber war, und da bin ich mir mit dem Mann einig, dieses Gefühl, aufzustehen und gleich in der Natur zu sein, die Füße auf einen erdigen, guten Boden zu setzen und nicht auf Teppichflor oder Holzparkett, nicht erst auf einen Balkon hinaustreten zu müssen (wenn überhaupt vorhanden), um das Draußen zu sehen und zu riechen. Man ist gleich und sehr „da“. Hört Vögel zwitschern und Grillen zirpen, sieht die Camp-Katze herumstreifen, hört den Wind durch das Blattwerk zischen, und das alles vor dem ersten Kaffee und dem ersten Kontakt mit Zahnpasta.
Würde ich es wieder machen?
Das hat mich auch der Mann gefragt. Eine Campingliebhaberin wolle er aus mir machen, hat er noch zu Beginn des Urlaubs gesagt, und dafür, das muss man wirklich anerkennen, auch groß aufgefahren: elektrisch betriebene Kühltruhe, Campingkocher mit Grill(!)funktion, Tisch und (besagte und besungene) Stühle, (ebenfalls besagtes und mit allem Einsatz aufgepumptes) Luftbett. Er hatte einen zusammenfaltbaren Wasserbehälter dabei und einen Regenschirm, ein Sonnensegel und Mückenspray. Ein Klapprad. Und das Zelt, natürlich. Bis auf den Hammer (siehe oben) – und das sei ihm verziehen – hatte er alles dabei, um es seiner Campingbraut, seinem Campingneuling und -sidekick, so angenehm, so smooth, so soft wie möglich zu machen. Ist mit mir umgezogen, unter die Olivenbäumchen. Hat meine Sieben(achtneunzehn)sachen vor dem Wasser von unten – und mich selbst qua Regenschirm vor dem Wasser von oben gerettet. Hat auf mich gewartet, wenn es länger dauerte mit Duschen und Zurechtmachen im Allgemeinheitsbad und bei meiner Rückkehr aus selbigem nicht einmal mit den Augen gerollt (zumindest hab ichs nicht gesehen). Hat mir die Wäschespindel repariert. Hat nachts den Käfer rausgeschmissen. Mir seinen wärmeren Schlafsack gegeben, als er spürte, dass ich zitterte. Kaffee gekocht. Brötchen geholt. Mich schreiben lassen. Mich zetern lassen. Mich in den Arm genommen.
Es braucht nicht das richtige Zelt, nicht den richtigen Schlafsack, nicht den richtigen Zeltplatz. Vielleicht braucht es noch nicht mal Olivenbäumchen. Es braucht nur – den richtigen Campingpartner.
Epilog
Würdest du es wieder machen, fragt er mich also, einen Tag und eine Nacht, nachdem wir Dianas Platz verlassen haben, weitergezogen sind ins Städtische. Wir sitzen bei gekochtem Ei, Hotelfilterkaffee und Obstsalat, die Tischdecke über dem runden Holztisch (kippelt) reicht bis auf den Boden, wir tragen Straßenschuhe, haben unser Haar gekämmt; um uns herum wachsen Wände in die Höhe. Ich schaue hinter den Mann aus dem großen Fenster, natürlich habe ich uns an den einzigen Platz am Fenster platziert, die zwei Fenstertüren weit aufgemacht. Luft, wir brauchen doch Luft.
Ich wische kleine dunkle Brotkrümel von meinem Teller auf die Tischdecke, in einer gewohnten Bewegung, weil ich kurz denke, es seien die Ameisen. Unsere Ameisen. Hilde vielleicht. Oder Mausi. „Ich vermisse die Ameisen“, sage ich zum Mann. Und das ist alles, was er wissen muss.
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