Ich bin leicht gestresst. Vier Stunden habe ich Zeit für ein Vergnügen, für das ich mir sonst – nur so lohnt es sich meiner Meinung nach auch – einen ganzen Tag frei nehme. Eine Tasche packe, mit der ich gut auch eine Woche lang in den Urlaub fahren könnte, Lektüre mitnehme, die für eine Zugfahrt von Sylt bis zum Bodensee reichen könnte. Zeitung. Buch. Frauenmagazin-1 für Dummies und Frauenmagazin-2 für Smarties. Im Rewe einkaufe wie für ein Familienpicknick (Kelly-Family-groß, nicht Gilmore-Girls-Duo-mini). Könnte ja sein, dass ich richtig Appetit bekomme auf viel herzhaft, oder doch lieber süß? Und Melone? Und Erdbeeren, bevor die Saison endgültig vorbei ist?

Ja, manchmal ist es anstrengend, ich zu sein.

Aber ich werde ja jedes Mal belohnt.

Es ist so: Wenn ich acht, neun Stunden auf meiner Wiese in meinem Lieblings-Freibad liege (ja, acht-neun-Stunden, man mag mich für exzentrisch halten), lese, esse, schreibe, mir Notizen mache, nachdenke, durchaus auch ab und an arbeite, döse, zwischendrin ins Wasser springe, dann ist das, aaaach, dann ist das, ja, in etwa so wie das, wofür andere zum Amtsarzt stiefeln oder nach Indonesien fliegen: eine achtwöchige Kur, ein 8000-Euro-Yoga-Retreat.

Wahre, nährende Erholung. „Nourishing“ sagen die Anglo-Amis dazu, und ich kenne kein treffenderes deutsches Wort. Nährend, aufbauend, die Akkus aufladend, erfrischend, gesundheitsstärkend (da bin ich mir sicher, auch ohne Doppelblindstudie), sshwwhoouuhh. Es plustert mich innerlich auf. Es sollte das auf Rezept geben.

Dann hörte ich von der neuen Regel: dass die Frankfurter Bäder (yippee, sie öffnen wieder) pandemie-regel-bedingt nur noch in Etappen zu besuchen sind, man sich also entscheiden muss, ob man vormittags von „Betriebsbeginn“, wie es so schön nüchtern heißt, bis 14 Uhr oder nachmittags von 15 Uhr bis, Ihr ahnt es, „Betriebsende“ (herrje) auf die heiligen Wiesen möchte (wenn man nicht zweimal Eintritt zahlen und eine Stunde draußen vor den Toren warten möchte, bis auch der letzte Wasserhahn drinnen desinfiziert worden ist, dafür nämlich soll diese Pause von 14 bis 15 Uhr genutzt werden).

Ich, mein Retreat planend, kam ins Grübeln. Meine schöne Marathonerholung – gekappt auf Kurzstrecke? Würde das nicht in etwa so sein wie bei einem 5-Gänge-Menü, bei dem es nach Suppe und halbem Hauptgang heißt, adieu, hinaus mit Ihnen, draußen warten schon die fürs Dessert und Käseplatte? Und was wähle ich? Aperitif oder Nachtisch?

Ich entscheide mich für den Vormittag. Da ist es wunderbar in meinem Bad. Findet auch die Frau, 65-70, lockerer Dutt, freundlich-offenes Gesicht, die ich vor dem Einlass – noch ist alles geschlossen, noch fünf Minuten bis zur Öffnung – treffe. Sie ist noch vor mir da, ist die Erste in der Reihe, was einiges heißen will, denn ich bin absichtlich früh von zu Hause aufgebrochen.

„Fast verrückt geworden ohne Schwimmen“

„Keine Minute vergeuden, was?“, sage ich zu ihr, und es klingt Gott sei Dank weniger schnippisch als es hier geschrieben steht. Wir sind ja Verbündete hier, nicht Konkurrenten um den ersten Einlass. Sie erzählt mir, dass sie seit Tagen jeden Morgen ein Onlineticket kauft, es auf ihrem alten Drucker ausdruckt, dann hierher fährt, mit kleiner Basttasche, ihr Handtuch auf eine der Bänke legt, ins Wasser steigt, ihre Bahnen zieht. Endlich darf sie das wieder. „Es war hart, in den Corona-Wochen“, sagt sie. Sie ist es gewohnt, mindestens zweimal pro Woche zu schwimmen, es tut ihr gut, ihren Gelenken, ihrer Seele. „Ich bin fast verrückt geworden in der Zeit, als ich nicht schwimmen konnte.“ Nun holt sie alles nach. Und ja: immer morgens. „Da hat man alles für sich.“ Und dass man nun zeitkontingentisch eingegrenzt ist, stört sie gar nicht? Ach, zuckt sie mit den Schultern, und sagt, ernst: „In der Kürze liegt die Grütze.“

Würze, denke ich. Wüüürze. Sonst wird doch auch kein Reim draus. Sage aber nichts, natürlich nicht. Es ist zehn Uhr morgens an einem 24-Grad-Tag vor dem Freibad, ich bitte Euch. Frei Schnauze im Freibad.

Beeilung, Beeilung, auch auf dem Klo
Nachdem ich mir an diesem Morgen mein Onlineticket gezockt habe – selbes Web-Ticketsystem wie auch Oper und Schauspiel es nutzen, rührend vertraut kommt mir das vor –, habe ich noch einen Blick auf die Baderegeln geworfen. Coronabedingt neu, natürlich: Eintritt mit Maske, Abstand halten, keine Gruppenbildung, kein Rumlungern am Beckenrand, Dampf machen bitte in Umkleide und WC. Kurz frage ich mich: Wie soll da sommer-bad-beschwingte Leichtigkeit aufkommen? Wie soll man Vibrations spüren, gute, statt Virusgedanken hegen, besorgte? Natürlich: muss alles, klar. Und sind wir nicht schon maskengestählt und abstandsgewohnt? Im Bad selbst dann Aushänge: schwimmen nur im Kreisverkehr, bitte nur 15 Leute pro Bahn. Ich schau aufs Becken: ach guck, Schnüre quer hindurch markieren Abtrennungen und neue Bahnen, auch dort, wo sonst keine waren.

Die Dame mit Dutt zieht schon ihre Kreise. Sie sieht glücklich aus.

Etwas später habe ich meine Decke ausgebreitet, meine Lektüre aufgefächert, Kaffee und Frühstücksküchlein stehen und liegen bereit, und da ist Corona plötzlich irritierend weit weg. Klar, wenig los hier, an so einem Werktag, an dem es keine 30 Grad hat, die Ferien haben noch nicht begonnen, der Abstand also ist leicht einzuhalten, sowohl auf der Wiese als auch in den sanitären Anlagen. Dennoch: war da was?

Und dann soll ich an den speckig-alten Duschknopf fassen…

An Corona denke ich merkwürdigerweise erst wieder, als ich, wieder etwas später, aus dem Becken steige, mich kurz an der Außendusche abbrausen will – und dafür an den eh schon speckig aussenden Knopf fassen muss. Was heißt fassen, drücken!, derbe!, damit Wasser von oben kommt. Überall wird gewarnt, Dinge anzufassen, und hier nun soll ich antatschen, was schon andere vor mir angetatscht haben? Wäre da nicht ein Sensor sinnvoll, wie er beispielsweise die Wasserhähne an der Toilettenanlage steuert?

Allerdings – Toilette: Mit leichtem Druck gegen die Tür (mit Knie, mit Ellenbogen, ja, mit Hüftknochen – klappt alles wunderbar, ja, ich habe es getestet) öffnet sich selbige in die WC-Anlage hinein – will man aber wieder hinaus, muss man an einen runden Plastiktürgriff fassen (was mich auch schon in den Sommern vor Corona genervt hat) und die Tür zu sich heranziehen. Klar, man wäscht sich eh Sekunden später die Hände. Dennoch, ein Rest Kopfschütteln bleibt.

Eher so die Langstreckenliegerin

Ich schaue auf die Uhr: schon 11.30 Uhr, so viel Zeit ist nicht mehr, bis ich das Bad wieder verlassen muss. Ich, die Langstreckenliegerin statt Sprinterin, rede mir zu: Genieße es, Romelly – und das klappt erstaunlich gut. Ich lese konzentrierter, nippe bewusster an meinem Kaffee, fühle fast jeden einzelnen Sonnenstrahl, nehme jeden Schwimmzug stärker wahr. Ich verbiete mir, gestresst zu sein. Koste stattdessen jeden Augenblick aus. Es ist herrlich, es ist ein Retreat. Ich brauche kein Indonesien, wenn ich das haben kann. Ja, auch auf Kurzstrecke.

20 Minuten vor zwei dann eine Melodie durch die Lautsprecher und die Durchsage, die ich seit Jahren kenne, sonst abgespielt Punkt 19.40 Uhr: Es sei nun „allgemeiner Badeschluss“, „für heute“. Lüge, denke ich, denn: es gibt ja gleich, in rund einer Stunde, die nächste Schicht. Ich beobachte die Leute. Gibt es Revoluzzer? Besucher, die aufbegehren? Die länger liegen bleiben, sich gar in die Büsche schlagen, sich verstecken, um sich doch noch, eine Stunde im Versteck verweilend, die zweite Schicht zu erschleichen? Ich sehe: nichts davon. Ich sehe: Menschen, die geduldig ihre Sachen zusammenräumen, langsam zum Ausgang schlendern, manche tragen sogar ihre Maske.

Also packe auch ich zusammen. Kurzer Check: Ich bin erstaunlich erholt, gestärkt. Erfrischt vom Wasser, gestreichelt von der Sonne. Habe fast alles gelesen, was ich lesen wollte, die Gedanken gedacht, die ich denken sollte, sogar, ein Ritual, meine Lieblingsradiosendung, 12:05, hr2-Doppelkopf, gehört. Der Vormittags-Slot ist doch der beste, denke ich so bei mir.

Ich gehe zum Ausgang. Überlege noch kurz: der Busch da hinten, der wäre doch groß genug für mich, zum Verkrümeln, für eine Stunde, und gucken die wirklich alle Ecken auf Liegenbleiber durch? – und ich würde ja sogar, im Versteck, die Maske tragen und auch, ganz sicher, versprochen, auch hier nur in die Armbeuge niesen!, aber da stehe ich schon am Drehkreuz, gehe hindurch, bin draußen. Regeln sind Regeln.

Die Dame mit Dutt ist da schon lange fort. In der Kürze steckt die Grütze.