Verleihung des Goethepreises: Wolf Biermann hält Laudatio auf Barbara Honigmann /// „Ob er wohl auch singen wird?”, fragt die kecke, kleine, ältere Dame eine Reihe hinter mir, die sich, seit wir Platz genommen haben, immer wieder mit lauten, an niemand speziellen gerichteten, aber unterhaltsamen Kommentaren bemerkbar macht.

Denn schließlich: Ist er nicht vor allem als Liedermacher bekannt geworden, dieser Wolf Biermann, auch schon bevor er sich öffentlich gegen das Regime der DDR wandte, bevor er 1976 aus seinem Land ausgebürgert wurde, im Westen blieb, in seine Geburtsstadt Hamburg ging, Bücher schrieb, Gedichte und Essays?

Heute hält er, der studierte Philosoph, in der Frankfurter Paulskirche eine Laudatio auf die Schriftstellerin Barbara Honigmann, die wie er zu den Kunstschaffenden mit DDR-Vergangenheit gehört; wie er hat auch sie noch vor dem Mauerfall das Land verlassen, allerdings per Ausreiseantrag, und nicht etwa über eine Ausbürgerung, wie sie Wolf Biermann erfahren hatte. Und wie er hat auch sie jüdische Wurzeln.

Ist doch alles sauber hier

Barbara Honigmann erhält den Goethepreis der Stadt Frankfurt, eine Ehrung, die einmal alle drei Jahre, traditionell am Geburtstag Johann Wolfgang von Goethes, also am 28. August, vergeben wird. Ausgezeichnet werde damit ihr Erzählen vom Schicksal jüdischer Menschen in der DDR und der Künstlerbohème in Ost-Berlin, erklärte Kulturdezernentin Ina Hartwig. Ihre Texte seien gespeist aus eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, dabei oft „autobiographisch grundiert”, öffneten aber auch den Blick für historische Zusammenhänge, gäben Zeugnis von den „Hoffnungen und Enttäuschungen jüdischer Menschen im sozialistischen Teil Deutschlands”.

Wolf Biermann aber will erst mal eins: keine Umstände machen. Legt sein soeben ausgezogenes Jacket neben das Rednerpult auf den Boden, will mit der Laudatio beginnen, nimmt wahr, dass eine Mitarbeiterin die Jacke aufhebt, wegtragen will, unterbricht seine Anfangsrede sogleich. Aber nein, lass ruhig hier, ist doch alles sauber hier!

Gekicher aus dem Publikum, auch von der Dame hinter mir, natürlich. Der Biermann schon wieder, mit seinem eigenen Kopf, der!

Und dann schwingt er sich auf zu einer Rede, ach was, einem Theatermonolog, an dem er gefeilt haben muss, lange, den er geprobt haben muss, immer wieder. Meisterhaft gewählt sind die Formulierungen, herausgearbeitet aus einem „Steinbruch der Worte”, so sagt er selbst, die Bilder, die Wortdrehungen und -wendungen, clever etwa der Einfall, Goethe eine (was auch sonst) fiktive E-Mail-Anfrage zu schicken, den Nachrichtenserver dabei auf dem Olymp zu verorten (ja wo auch sonst), E-Mail-Adresse also: goethe@olymp.de. In der Antwort des Dichters versteckt Biermann die Würdigung seiner Weggefährtin, Barbara Honigmann, denn um sie geht es ja hier.

Dreifacher Ausreisesalto

Die Schriftstellerin und Malerin Barbara Honigmann, gebürtig aus Ost-Berlin, wanderte 1984 aus, und zwar, wie Biermann sagt, ein bisschen weiter als nur in den Westen Deutschlands, nämlich in den Elsass, nach Straßburg, ein „dreifacher Salto” sei das gewesen. Erstens: von Ost nach West, zweitens: von Deutschland nach Frankreich, drittens: von der „atheistischen Marx-Religion” zum „orthodoxen Moses-Glauben”. Hier schrieb sie ihre Bücher: die Erzählsammlung (sic) „Roman von einem Kinde”, Romane wie „Eine Liebe aus nichts”, „Damals, dann und danach”, zuletzt auch „Chronik meiner Straße”, „Georg” und „Unverschämt jüdisch”. Im Jahr 2000 schon hatte Honigmann den Kleistpreis erhalten, später folgten fast jährlich Auszeichnungen, darunter der Elisabeth Langgässer-Literaturpreis und der Jean-Paul-Preis für ihr Lebenswerk.

Heute nun also der Goethepreis.

Goethe antwortet per Mail an Biermann, direkt vom Olymp: Ja, mit der Wahl der Preisträgerin sei er „hochzufrieden”. Erst unlängst habe er sich ihren Roman „Alles, alles Liebe” über ein Online-Antiquariat bestellt („mit 2,45 Euro billig”, ihm aber beim Lesen umso teurer geworden), und der erinnere ihn nicht nur an seine Leiden des jungen Werther (im Briefroman lasse sich eben „der komplexe Wirrwarr widersprechender Gefühle angemessen vielschichtig zur Erscheinung bringen”), sondern auch an Wilhelm Meisters Lehrjahre. Überhaupt gefalle ihm, Goethe, so liest Biermann weiter vor, Honigmanns „schnörkelloser Sprachduktus”, sie schreibe „raffiniert kunstscheu”. Schnörkellos, das wird Ina Hartwig in kurzen spontanen Abschlussworten später nochmal aufgreifen, habe sich Honigmann auch soeben ins Goldene Buch der Stadt eingetragen (das mache ja ein jeder Preisträger anders, was wieder, so Hartwig, eine eigene Stilkunde wert wäre).

Nun nicht kunstscheu, sondern gerade äußerst kunstfertig hingegen Biermann an diesem Abend in Frankfurt, lebendig und persönlich, und nicht ohne dabei, ja, auch ein bisschen unbequem zu werden: Ordentlich Seitenhiebe teilt er aus, auf den Literaturbetrieb, der sich auch hier, gleich einem „Vanity Fair”, einem Jahrmarkt der Eitelkeiten also, versammelt habe; schon die Anrede — „hochgeschätzte Damen und Herren” formuliert er in süffisant-ironischem Ton, ergänzt sie um die spitze, jedes Wort einzeln betonende Nachfrage: „Wer-schätzt-Sie?” Ho-ho-ho, höre ich aus der Reihe hinter mir, die alte Dame hat den Hieb verstanden. Und er insinuiert, dass Barbara Honigmann, die er zärtlich-vertraut mal mit „Babu”, mal mit „Freundin, bewunderte Kollegin” anspricht, doch eben dies, eine solche Auszeichnung also, nicht nötig habe; er bringt das Bild aufgespießter Schmetterlinge ins Spiel, über die bereits Goethe, kritisch, gesagt haben solle, „erst auf der Nadel wird’s interessant”.

„Das ist der Honigmann-Sound”

Er sieht Barbara Honigmann, Tochter jüdischer Kommunisten, die in der DDR zur Kultur-Elite zählten, in einer Reihe mit zwei weiteren, so sagt er, „Kommunistenkids” mit jüdischen Wurzeln: mit Thomas Brasch und Gregor Gysi. Dem einen, dem Rebell gegen Vater und Regime, sei sein Leben wie sein Dichten „zerronnen”. Der andere, der „Pfiffige”, der sehr wohl ebenso hätte aufbegehren können gegen die „Apparatschik-Eltern”, machte, ganz im Gegenteil, juristische wie politische Kader-Karriere.

„ungeschnörkelt wahrhaftige Alltagssprache”

–Wolf Biermann über Barbara Honigmanns Schreibstil

 

„Anders Barbara Honigmann”, so Biermann. Sie habe stiller, für sich, einen „Weg ins Offene” gefunden, zunächst als naive Malerin, später als Prosa-Schriftstellerin. Eines ihrer Stilmittel: ein „skandierter Rhythmus einer scheinbar naiv dahin redenden berlinerischen Sprechschreiberin”, wichtigstes Merkmal: Punktierungen. „Prall gefüllte Sprachlosigkeiten, Wortfetzen, ein expressionistischer Ton”, attestiert Biermann, ferner „Unstetigkeitsschwellen aus Synkope und Verknappung” – dies alles präge den „Honigmann-Sound”. Mit „ungeschnörkelt wahrhaftiger Alltagssprache” habe sie ihren Themen beikommen wollen, den Sujets Exil und Erlösung, der „traditionellen Trauer ihrer jüdischen Exilanteneltern”. Eben nicht in der Sprache der „Vorkämpfer”, sondern „so, wie wie es dem Ratlosen entspricht”.

„Wir blieben in Deutschland Ausnahmeexemplare”, spielt Biermann zudem auf ihre größte Gemeinsamkeit an, „wir beide waren in diese Welt als Juden und Kommunistenkinder geraten.” Und er ergänzt: „Wir schwiegen einander die zerschwiegenen Ängste.”

Bei Gelegenheit, auch das sagte er noch, werde er „seine Freundin” einmal unter vier Augen indiskret fragen, ob auch sie manchmal noch den „Phantomschmerz seit dem Verlust unseres Kinderglaubens an ein kommunistisches Narrenparadies” spüre. Die nachfolgende Begegnung zwischen den beiden – er kehrt zurück zu den Publikumsrängen, sie erhebt sich, geht ihm entgegen – ist innig. Eine Umarmung, ein Drücken, und ein Lächeln auf beiden Seiten, wie es nur Freunde füreinander haben (festgehalten hat diesen Moment, da musste man wirklich schnell sein, der Fotograf Maximilian von Lachner für die FAZ, siehe hier).

Vorher jedoch, auch das sei gesagt, stimmt Biermann noch zwei Stücke an. Schon bei der Ankündigung, „deshalb werde ich nun noch zwei Liebeslieder für dich singen”, geht ein Raunen durchs Publikum; auch die Dame hinter mir seufzt, ist es Überraschung, ist es Freude?, auf. Wir hören, zumindest in Teilen: „Berliner Pflanze”, rum-tata-rum-tata, und: „Und als wir ans Ufer kamen”. Mir war nicht bewusst, welch schöne Singstimme er hat, dieser Barde, etwas zwischen Bariton und Bass, warm, kräftig, und er legt Leben hinein.

„Dass ich eins und doppelt bin”

Umso ruhiger, besonnener hingegen wirkt anschließend Honigmanns Dankesrede. Auch sie geht, natürlich, auf Goethe ein; seine Dramen, seine Erzählungen und seine Gedichte hätten ihren „Weg als Deutsche vielfach markiert”, ihr Weg als Jüdin hingegen sei geprägt „von Exil-Erzählungen und Überlebensgeschichten und von dem tief in mich eingepflanzten und stets anwesenden Gefühl von einem ‚Wir, die Juden‘, und ‚die, die Deutschen‘”. Auf das „Nebeneinanderherleben von Juden und Deutschen”, wie sie es wahrnehme, passe ein Nebensatz von Goethe, mit dem er in „Dichtung und Wahrheit” seinen Eindruck von der Frankfurter Judengasse einleitete: „Wenn man nur am Tore vorbeigeht…” – hierin spiegele sich das Ignorieren der Kulturen, „um einmal gar nicht von Verfolgung und Vertreibung zu sprechen”. Ähnlich wie vom Mond habe Goethe, wie die meisten seiner Zeitgenossen, nie die abgewandte Seite des jüdischen Geisteslebens wahrgenommen, sagt Honigmann, sondern nur das äußere Erscheinungsbild, wie eben jenes der Judengasse, vom Tore aus kurz erhascht.

Barbara Honigmann bei der Verleihung des Goethepreises 2023 in der Frankfurter Paulskirche

„…dass ich eins und doppelt bin“ – Barbara Honigmann hält ihre Dankesrede

Mit ihrem Vater, Georg Honigmann, der während seiner letzten Lebensjahre im damals leerstehenden und baufälligen Weimarer Schloss Belvedere wohnte, ist sie häufig an dem von Goethe importierten Ginkgo-biloba-Baum vorbeispaziert, und die beiden haben darüber sinniert, ob dies wirklich jener Baum sei, über dessen besonderes Blatt Goethe geschrieben habe: „…dass ich eins und doppelt bin”. „Dass ich eins und doppelt bin – passt das nicht gut auf die deutsch-jüdische Existenz?”, fragt Honigmann heute ins Publikum. Diesen Dualismus, das stehe fest, müsse jeder moderne Jude leben – und aushalten. Und in die Poesie dürfe man sowieso alles hinein– und wieder hinauslesen.

Manchmal braucht es diese Nadel
„So, jetzt gibts nochmal Musik”, kommentiert die kleine Dame hinter mir wieder munter-laut – nein, diesmal nicht von Biermann, der hat seine Gitarre schon wieder weggepackt, aber ein weiteres Mal tritt das Oxalis-Quartett an, spielt (sehr schön) eine letzte, dritte Musikeinlage, nach Schubert und Mozart nun also Beethoven. Fünf Minuten, um nochmal inne zu halten, zu reflektieren. Ein kurzweiliger Abend war das, gefühlsstark, impulsliefernd. Bereichernd. Denn, und dieses Geständnis bringe ich nun am Schluss: Ich kannte Barbara Honigmann bislang nicht. Sie war mir einfach noch nicht untergekommen. Oder ich hatte sie übersehen, als sie an mir vorbeiflatterte, in einem Verlagskatalog vielleicht, einer literarischen Veranstaltungsreihe, einem Buchmessenrundgang, beim Durchblättern des Feuilletons. Vorbeigeflattert, so schnell, dass ich sie nicht sehen konnte. Ich brauchte – ganz offenbar – eben diesen Eitelkeiten-Jahrmarkt, musste die Autorin und ihr Werk auf eine Nadel gepikst präsentiert bekommen, angelockt, ja, auch ein bisschen von der Präsenz dieses Liedermachers, von dem würdevollen Ambiente einer, unserer Paulskirche. Ich werde nun losgehen und mir ihre Bücher besorgen, ihre kunstscheue, schnörkellose Sprache erkunden, ihre Geschichten lesen. Mit „Alles, alles Liebe” werde ich beginnen, da vertraue ich ganz auf Goethe.

„Na, hat er also doch gesungen”, sagt hinter mir, wir erheben uns, wollen gehen, eine mittlerweile vertraute Stimme. Keck und, nach den zwei Stunden, noch immer spürbar munter. Und vor allem eins: sichtlich zufrieden.

Wolf Biermann, singend in der Paulskirche, bei der Verleihung des Goethepreises an Barbara Honigmann

Und jetzt singt er doch: Wolf Biermann, in der Paulskirche, bei der Verleihung des Goethepreises an Barbara Honigmann

 

— Round-up —


Schönster Satz des Abends:
„Wir schwiegen einander die zerschwiegenen Ängste.” Wolf Biermann über seine Freundschaft zu Barbara Honigmann

Überraschendste Entdeckung:
die wirklich schöne Singstimme Wolf Biermanns

Im Auge behalten:
das Oxalis-Quartett, eine Musiker-Vierer-Combo mit Fokus auf Klassik, das seit 2021 seinen Master (jawohl, alle zusammen) an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK) macht

Lektüre-Take-home:
Memo an mich: Lesen, unbedingt: „Alles, alles Liebe”, aber auch: „Georg”, Barbara Honigmanns Roman über ihren Vater Georg Honigmann

Mehr über Barbara Honigmann:

Ein Autorinnenportrait, das Ina Hartwig in ihrer Rede als „einfühlsam wie kenntnisreich“ lobte, ist unlängst hier in der Jüdischen Allgemeinen erschienen, geschrieben von Thomas Sparr.

Impuls:
Könnte die Stadt Frankfurt nicht einmal alle Eintragungen des Goldenen Buchs ausstellen, veröffentlichen, gespickt mit dazugehörigen Anekdoten vielleicht – oder gab es das schon? Weiß das jemand? (Schreibt’s gern in die Kommentare.)

 

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