— Gastbeitrag —
Es ist für mich das größte Glück, keine Mutter zu sein. Und das größte Unglück.
Beide Kräfte, beide Gemütszustände wirken gleichzeitig und mit brutalster Intensität, es gibt kein laues Dazwischen. Volle Verzweiflung und Trauer, die tief geht und stichelt und wühlt, und zugleich immense Erleichterung, ja, fast Euphorie. Das Dazwischen, das es dann vielleicht doch gibt, weil es das ja geben muss, das ist dann wohl – das Leben.
Ich gehe in diesen Film heute Abend mit einer Frau, die sich – im Gegensatz zu mir – klar für das Muttersein entschieden hat, einer Freundin, die ich seit Jahrzehnten kenne, mit der ich aufgewachsen bin, mit der ich einen großen Teil des Lebensweges teile, Abitur, Studium, Großstadtleben – bis eben dieser, ihr Wegeinschlag uns, na, nun nicht entzweite. Aber eben doch dafür sorgte, dass wir fortan sehr unterschiedliche Leben führten. Sie mit Ehemann und Kind im Reihenhaus im Vorort’schen. Ich weiter in der City, im etwas egozentrischen Carrie-Bradshaw’schen (wenn man so will, Stereotype machen es eben anschaulich).
Anke-Engelke-Film „Mutter”: Ausverkaufte Hessenpremiere
Und nun, ich weiß gar nicht mehr, wie es kam, sitzen wir beide nebeneinander in diesem Film, sind an dem so ikonisch wirkenden Filmplakat vorbeigeschlendert („ausverkauft”, prangt ein Aufkleber darauf), eigentlich nur mal Anke Engelke gucken. Auf die können wir uns irgendwie alle einigen, wir Frauen, oder? Anke mögen wir im Kollektiv. Ihren Witz, ihre Klugheit. Ihre Unprätentiösität bei gleichzeitiger Klar- und Direktheit. Dass sie heute, bei dieser Frankfurt-Premiere ihres neuen Films, anwesend sein würde, zieht uns wie viele andere auch ins Cinéma-Kino am Frankfurter Roßmarkt.
Dass es bei unserer cineastischen Abendunterhaltung aber nun ausgerechnet um Mütter gehen würde, ist fast, naja, ein Zufall. Und dass ich hier mit genau dieser Freundin sitze, diesem Frau gewordenen Lebensentwurf-Antagon, ist das dann schon, naja, Ironie? Alanis M., was sagst du?
Willkommen zur Anke-Playback-Show
Zum Film: Acht Frauen, Mütter, im Alter zwischen 28 und 75, hat die Regisseurin Carolin Schmitz interviewt. Zehn Jahre ist das nun schon her. Sie hat die Kamera auf sie gehalten, ihnen Fragen gestellt, zugehört, wenn sie erzählten, von ihrem Frausein, ihrem Muttersein, ihrem Leben. Genutzt hat sie später jedoch nur die Audiospuren. Hat sich überlegt, was sie mit dem Material machen soll, wie sie es auf die Leinwand überführen soll. „Interviewfilme interessieren mich nicht”, wird sie an diesem Abend noch, im nachfolgenden Filmgespräch mit Shirin Sojitrawalla, sagen. So kam sie auf Anke Engelke. Die Schauspielerin verkörpert nun diese Frauen, jede einzelne, indem sie deren Erzählungen lippensynchron, in einer Art Anke-Playback-Show, wiedergibt.
Und doch ist das eigentlich falsch ausgedrückt. Denn sie spielt nicht diese Frauen und ihre Geschichten oder Lebenssituationen nach. Sie ist eine eigene, autonome, von Carolin Schmitz geschaffene Figur (wie es der Filmtitel ja auch ankündigt: Mutter. Und eben nicht: Mütter). Die allein in ihrem (?) Haus sitzt, Auto fährt (und dieses in die Waschanlage), die Theatertexte lernt, auf einer Bühne probt, angekleidet, geschminkt wird, die in einem Konzert sitzt, in einem Taxi, die einkauft (viele Äpfel und viel Tiefkühlkost), Wäsche wäscht und aufhängt, die beim abendlichen Fernsehen auf dem Sofa unter einer Wolldecke einschläft (und nächtens wieder aufwacht). Sie ist all das, eine eigene Figur also, die aber, während sie all das tut, eben jene Erzählberichte wiedergibt. Den Frauen ihre Lippen leiht, ihre Mimik und Gestik, und sich von ihnen die Stimme und die Geschichten. Von acht anderen, sehr individuellen Frauen, mit eigenem Leben, eigenem (oh ja!) Dialekt. Durch diese Methode entsteht der Effekt, dass die Figur, so formuliert es Schmitz, über all diese Mütter „hinausweist”.
Die Frau im Film agiert als eine allgemeingültige Universalfigur, als Stellvertreterin für alle Frauen. I’m every woman. I’m every mother. Dazu passt, dass keine der erzählten Geschichten stringent wiedergegeben wird. Irgendwann ertappt man sich, dass man sich fragt: Moment, ist das jetzt die Frau aus Hamm, die Lehrerin? Oder die mit dem Italiener? Oder ist die aus Hamm die mit dem Italiener?
Verwirrung, Vermischung, aber eben das soll so sein, sagt Schmitz im Filmgespräch. Es gibt keine Handlungsstränge, die Damen sollen gar nicht unbedingt auseinander gehalten, ihren Geschichten gefolgt werden können. Auf die Verfremdung, dass eine andere das Playback gibt, auf die weitere Verfremdung, dass sie eben dies nicht als Darstellerin dieser Figuren tut (hätte man ja so gestalten können), kommt on top noch die Verfremdung durch das Durcheinandergewürfele der Geschichten.
So, und genau das ist es, womit ich, bis heute, am zweiten Tag danach, noch immer fremdele. Ja, ich habe wirklich noch abgewartet, mir einige Stunden gegeben. Und komme zu dem Schluss: Es lässt sich sehr viel über die Methode und Machart dieses Films nachdenken, über diesen Kunstgriff, über Technik, über zwangsweise Anstrengungen beim Dreh, über Auswendiglernen und das richtige Timing während der einzelnen „Takes” (das Wort fällt oft in diesem anschließenden Werkstattgespräch, und sehr oft wird dabei die Ton-Praktikantin Dascha Petuchow erwähnt – und ich erwähne sie jetzt einfach auch nochmal –, ohne deren Mühe und Sorgfalt das alles wohl nicht hingehauen hätte); darüber, dass hier vielleicht sogar ein neues Filmgenre geschaffen wurde. Und das macht auch alles Spaß und ist sinnvoll und wird noch so einige Filmwissenschaftsbachelor-Anwärter beschäftigen. Und dass Anke Engelke zu den Genies unter den Schauspielern gehört, hat sie mit dieser Leistung nun wirklich endgültig und eindrucksvoll bewiesen (sie ist außergewöhnlich, und ich sage Euch: Schaut Euch diesen Film schon allein ihres Spiels wegen an).
Und dann ist da aber eben noch das titelgebende Sujet. Mutter. Mutterschaft. Und das geht über die ungewöhnliche Machart des Films, über diese Kunststückchen — pardon: unter. Selbst Shirin Sojitrawalla muss den einen oder anderen Anlauf machen, das Thema anzusprechen. Warum dieses Thema, was wollen Sie uns damit sagen, so etwa. Aus dem Publikum kommt die Frage, ob Engelke denn die Frauen, denen sie ihren Körper leiht, wenn man es so dramatisch ausdrücken will, vor dem Dreh einmal gesehen oder kennengelernt, etwas von ihnen gewusst hätte. (Der Fragesteller hat nicht den Deutschlandfunk am Tag vorher gehört, denn da hat ein Journalist die eben gleiche Frage gestellt), und Engelke sagt: nein. Wollte sie bewusst nicht.
Ich vermisse die eigentlichen Figuren
Und da merke ich: Ich vermisse sie. Diese anderen Frauen, diese Mütter. Ich möchte ihre Augen sehen. Und ihre Geschichten weiter hören, mehr Davor und mehr Danach. Möchte einen Körper dazu sehen, den echten, wissen, wie sie ihren Mund bewegen, wie sie ihr Haar tragen, welche Kleidung, ob sie noch den Ehering tragen, eine Kette, echte Perlen oder Bijou-Brigitte-Schmuck. Ob sie traurig gucken, wenn sie von ihrem Kind sprechen. Oder ihrem Mann (dem neuen wie dem alten).
Ja, ich fühle mich, als sei mir etwas ganz wichtiges vorenthalten worden. Die Wirklichkeit vielleicht, die Authentizität. Als sei mir etwas, nun, vorgespielt worden. (Was es ja auch ist.) Warum mich das in erdachten Spielfilmen nicht stört? Oder in Dokumentationen mit nachgestellten Szenen? Ja, das würde ich auch gern wissen. An der Qualität kann es nicht liegen, wie gesagt, Anke Engelkes Spielkunst ist extraordinär. Ich mag auch Schnitt und Bildführung und Licht und Ton und Atmosphäre. Es ist alles gut und gut gemacht. Aber: Vielleicht ist es der Umstand, dass man den Frauen durch ihre Stimmen so nah kommt — und dann aber geprellt wird, weil sie, die „Echten”, eben fehlen.
Ankes Spielkunst hin oder her, es ist eben auch genau das: Spiel. Kunst. Künstlichkeit. Roman Jacobson hat von der Spürbarkeit der Zeichen gesprochen. Dass es immer noch eine andere Ebene gibt, auf der wir Geschichten, Literatur, aber vielleicht ja auch Filme wahrnehmen können. Etwas, das über den reinen Inhalt hinausgeht. Hier, in diesem Film, sind die Zeichen, die „Gemachtheit”, wie meine Literaturprofessorin von früher sagen würde, mehr als spürbar, ich stoße mich direkt daran. Und was mir bei Literatur so sehr gefällt, ich sogar für ein Qualitätsmerkmal halte (ich sage mal mutig durcheinander Herrndorf und Zeh, Melle und Austen und Shakespeare) und ich auch an manchen Filmen schätzen kann, hinterlässt mich hier doch seltsam…unterkühlt. Unbewegt.
Wenn dieser Film also ein neues Genre begründet — man könnte es Playback-Doku nennen oder LipSync-Fiction —, dann ist dieses vielleicht nicht meins. Denn hier, in diesem konkreten Fall, erzählt mir das Produkt dann doch zu wenig — über Mutterschaft. Oder zu wenig Durchdringendes, Haftendes. Engelke macht im Filmgespräch einen Versuch, bringt Vokabeln wie „Wertschätzung”, „Achtung” ins Spiel, die doch für die Mütter aufgebracht werden müssten.
Und sie fischt eine Gegebenheit aus dem Film heraus, an der sie aufzeigt, dass es doch merkwürdig sei, dass, wenn eine verheiratete Mutter die schwerwiegende Entscheidung trifft, zu einem anderen, neuen Mann zu ziehen, es dann immer heiße, sie habe ihre Kinder verlassen. Statt doch einfach nur: ihren Mann. Und dass es diesen Automatismus gebe, dass Kinder meist bei der Mutter blieben, wenn die Ehe der Eltern in die Brüche ginge. Warum ist das eigentlich so?, fragt sie in Frankfurt. Ja, darüber könnte man tatsächlich einmal nachdenken, vielleicht ist dies dann doch ein Denkanstoß, den man dem Film abringen kann.
Meine Freundin, die Mutter, ärgert sich derweil über etwas ganz anderes, sagt sie mir hinterher beim Wein: „Es kommt viel zu wenig raus, wie glücklich man als Mutter auch sein kann.” Das ist merkwürdig. Denn ich finde, genau dieses Glück, bei allem Alltagselend, allen Zwängen, dieses Mutterglück also, liegt über dem ganzen Film. Wie eine Grundprämisse. Wie ein, na klar ist man als Mutter glücklich, aber-eben-auch-aaaber…
Oder ist das nur meine selektive Empfindung? Und da ist es wieder. All dem himmeljauchzenden Glück, das ich spüre über die Abwesenheit von Elternabenden und Eltern-Whats-App-Gruppen, von eingeschleppten Kita-Infekten, von Gebrüll und von drohendem Home-Schooling bei der nächsten Pandemie, von Schwangerschaftsdiabetes und Schwangerschaftsstreifen und Dammriss, von drückender Verantwortung, Aufgaben und Ausgaben, Zweifeln, Ängsten und Sorgen, von Kompromiss und Verzicht und Zeitzwängen — all dem Glück also, dass dieser Kelch an mir vorübergegangen ist, ich eine Freiheit lebe, die ich jedem Menschen nur wünschen kann, steht diametral das ebenso himmelschreiende Unglück gegenüber. Keine Mutter zu sein.
Es ist eine „Ambivalenz”, sagt Carolin Schmitz der FAZ.
Und da sind wir uns dann doch sehr, sehr einig.
Autorin: Cornelia Röhmig
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