FILM „CENSORED VOICES“ IN DER NAXOSHALLE  //


Ich weiß nicht viel vom Sechs-Tage-Krieg. Oder: Was weiß ich schon? Habe das Land – Israel – bereist, habe Bücher gelesen, gar nicht mal nur Reiseführer, nein, nein, „Jerusalem – Die Biographie“ von Simon Sebag Montefiore, gutes Material, wahrlich. Belastbar, ausgewogen, zumindest bilde ich mir das ein.

Und doch gehe ich heute, muss ich heute, verschnupft und müde und mit viel Arbeit im Nacken, in die Naxoshalle, wo ein Film vorgestellt wird, der mich anzieht: Censored Voices.

Censored Voices_Filmplakat

Während weiter westlich heute, am 8. November, Ungeheuerliches geschieht, die Welt noch nicht ahnt (nur die Simpsons haben es vorausgesehen, aber das ist eine andere Geschichte), dass Amerika bald von einem zweifelhaften Immobilienmilliardär regiert wird, geschieht auch hier, in diesem viel zu kalten Saal – wir: mit Decken – Ungeheuerliches.

Ich weiß nicht, wer uns das antrainiert hat, die Israelis instinktiv als die Guten zu sehen. Als Unfehlbare, als Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit, als bedrohtes Volk, das doch nur eines will: in einem Land, seinem Land, einem Land, das es das Seine nennt, friedlich zu leben. Nach allem. Was war.

Und dann sieht man diesen Film, sitzt eingewickelt in einer Decke, fühlt beständig einen kalten Lufthauch an der Wange, der linken, ärgert sich, dass man den warmen Tee nicht hat in den Kinosaal mitnehmen dürfen, sitzt also da, sieht den Film – und sieht, spürt etwas kippen. Es war einmal – ein Weltbild.

Es gibt Filmmaterial vom Sechs-Tage-Krieg, und es gibt Interviews mit den Soldaten. Amos Oz, der berühmte israelische Schriftsteller war, da war der Krieg erst einen Tag aus, in die Kibbuzim gefahren, hat sich dort mit heimgekehrten Soldaten unterhalten, und die Gespräche auf Tonbändern aufgezeichnet. Warum die Kibbuzim? Weil hier so viele Menschen dicht an dicht leben, heißt es im Film. Und dass sie alle beisammen sitzen, fördert, das merkt man, die Gesprächsbereitschaft; erzähl Du doch, wie war das gestern, letzte Woche, im Krieg, na komm, jetzt möchte ich es auch hören.

Censored Voices_Tonbänder

Und sie erzählen, die Soldaten. Erst zaghaft und zögerlich. Dann immer mehr.

Davon, dass sie anfangs euphorisch in den Krieg gezogen sind. „Es ging darum, uns zu verteidigen, die Araber, die Ägypter zurückzudrängen, ich wusste, wenn ich sie nicht töte, töten sie uns.“ Also setzte man sich in die Panzer, schoss, der andere, der Feind war ja so weit weg; kaum ein Mensch, nur ein Ziel. „Wenn er vor mir gestanden hätte, auf Armeslänge“, erzählt einer später, „ich hätte ihn vielleicht nicht töten können.“ Weiter, immer weiter, Gaza zurückdrängen, was ein Erfolg, weiter süd-westlich dann hinein nach Ägypten, immer weiter, wir schaffen Kairo, wir schaffen den Suez-Kanal. Hurray!

„Und auf dem Weg nach Kairo, ich sag Euch, nehme ich mir jede Frau, die ich kriegen kann und selbst wenn sie 90 ist, und ich werde sie –“, man will es nicht hören, und ich will es nicht schreiben, was jetzt alles folgt. Will mich kaum daran erinnern müssen, wie die Kameraden im Filmausschnitt mit einstimmen, ein Lied singen, über die Frau, was sie mit ihr machen würden, mit ihr machen werden – ist es Konjunktiv oder schon beängstigender Indikativ?, in Refrain und in Strophe mit ihr anstellen. Die Israelis, die doch nur ihr Land befreien wollen.

Es ist der erste Schockmoment.

„So ist Krieg nun einmal“ – Melanie Andernach, Co-Produzentin im anschließenden Filmgespräch.

„Das ist so, das ist Krieg, die Energie des Krieges, das ist überall so“, wird die Co-Produzentin, Melanie Andernach, nachher im Gespräch sagen, und man will weinen. Weil man es ja weiß. Und es doch so schrecklich ist. So ungeheuerlich.

Im Off, die Tonbänder laufen, erzählen also die jungen Soldaten von ihren Erlebnissen, noch alles ganz frisch, gerade mal wenige Tage ist das ja zu diesem Zeitpunkt alles her; und das Ganze wird untermalt mit – echten – Videoaufnahmen von damals. Eine Meisterarbeit des Cutters, das so hinzubekommen, dass eines zum andern passt, als wäre es dafür dramaturgisiert worden, eine Meisterarbeit, sagt auch die Co-Produzentin, und wir, um sie herum, nicken.

Als die Soldaten dann einen gefallenen Ägypter auf Waffen untersuchen, seine Papiere öffnen, fallen ihnen Fotos in die Hände. Zwei Kinder. Sie haben einen Vater von zwei Kindern getötet. Auf einmal war der Mensch wieder ein Mensch. „Und auf einmal fühlten auch wir wieder wie Menschen“, sagt ein Soldat, und das Tonband läuft mit. „Und im nächsten Moment schießt man wieder.“

Nach sechs Tagen: der Sieg, die arabische Koalition kapituliert, es wird eine Waffenruhe vereinbart. Die Israelis sind auf dem Rückmarsch durch die Wüste, haben aber, so berichtet einer, dennoch einen Befehl erhalten, jeden fliehenden arabischen Soldaten – der ja in dem Moment kein Soldat mehr ist, er ist Zivilist – zu erschießen. Und das machen sie auch, die Israelis, zumindest wissen das die Tonaufzeichnungen. Sie schießen nicht nur, sie holen ihre Fotoapparate heraus, machen Jagd auf Leichen, wer findet die krasseste, die fotogenste, „die schönste Leiche“, wie es ein Soldat sagt. „Warte, fotografier‘ nicht die, da hinten liegt noch eine schönere Leiche“.

Sie demütigen die Araber, töten sie, so erzählen die Soldaten im Kibbutz, manchmal lassen sie sie sich in einer Reihe aufstellen und erschießen sie hintereinander. „Ich dachte oft daran, dass sie das Gleiche mit uns gemacht hätten, hätten sie gewonnen.“

Und das Verstörende ist die Erkenntnis: Ja, du wirst recht haben. Das mag so sein. Das mag so ungeheuerlich und schauerlich und menschlich sein.

Wir Menschen sind Bestien, lautet die Erkenntnis. Die Erkenntnis der Israelis, die Erkenntnis der Araber und die Unsere, die wir hier im Filmsaal sitzen und denen die Decken schon nicht mehr reichen vor lauter Kälte, äußerer und innerer, das kann man kaum noch unterscheiden jetzt.

Und: sie nehmen Jerusalem ein, vertreiben, „evakuieren“, deportieren die dort lebenden arabischen Menschen, reißen ihre Häuser ein, stopfen Männer, Frauen, Kinder in Busse – oh Gott, die Kinder -, treiben sie durch Flüsse, über Wege durch die Wüste. Für die Nachwelt wird die Eroberung Jerusalems durch die Israelis immer den Geschmack von „Rückkehr“ haben, endlich haben sie es geschafft, kommen heim zur Klagemauer, zu ihrem Tempel, der Stätte Davids. Mit diesem Tonus, dieser Historienkonnotation bin auch ich durch die Gassen gegangen. Sie haben sich damals ihre Stadt zurückgeholt, damit sie endlich, endlich wieder dort, an ihrem heiligen Platz, beten können.

Die Klagemauer. Wo die israelischen Soldaten angeblich in hysterische Schreie, in Schluchzen ausgebrochen sind, als sie sie endlich wieder berühren durften.

„Aber was wir fanden, war ja doch nur eine Wand“, sagt ein Soldat. „Steine.“ Und: „Ich will Euren Mythos ja nicht zerstören…“, sagt er, aber dass Fallschirmspringer an der Klagemauer geweint hätten? „Sorry, aber ich hab da keinen weinen sehen.“ Alt-Jerusalem, das suggerieren zumindest diese Gesprächsaufnahmen, hat keinen wirklich interessiert, die Altstadt, die Heimat, hatte keiner im Sinn, als es in den Krieg ging. „Ich hatte eigentlich bereits vergessen, dass es diese Altstadt gab“, sagt einer.

Und dann wird eine israelische Mutter interviewt, die gerade ihren Sohn im Krieg verloren hat. „Ich gebe die Klagemauer dreimal her, wenn ich nur meinen Sohn wieder haben könnte. Was will ich mit der Mauer?“

Die Aufzeichnungen wurden lange vom Militär unter Verschluss gehalten, das Buch, das Avraham Shapira anhand der Aufzeichnungen schrieb, zensiert, erst jetzt wurden sie Teil dieses Dokumentarfilms. Er wurde auf dem Sundance-Festival, der Berlinale gezeigt, und auch, mit Verzögerung, in Israel. Die Reaktionen seien stets zweigeteilt, erzählt Melanie Andernach. Man will sich ja den Krieg nicht nehmen lassen. Man will doch zu den Guten gehören. Man gehörte doch zu den Guten? Oder. Oder?

Die Stimmen, die es wagten, vom Gegenteil zu erzählen („sind sie repräsentativ“?, fragt anschließend einer, und Melanie Andernach sagt: „selbst, wenn sie nur zehn Prozent ausmachen würden, gehören sie doch gehört“), sie sind wieder laut gestellt.

Hört sie Euch an, die zensierten Stimmen.

Und nein, ich weiß nicht viel vom Sechs-Tage-Krieg. Und doch, heute, ein bisschen mehr.

 

Censored Voices (2015). 1h 24min | Documentary, History | (Israel)

Mehr über den Film: www.censoredvoices.com

Mehr über die Filmabende im Naxoskino (mit anschließender Diskussion), allerdings jetzt erst ab März wieder, weil sonst zu kalt in den kaum zu beheizbaren Räumen, sagt der Chef…: http://naxos-kino.org