Es war ein Samstag. Sie, 16 Jahre alt, wischte den Boden im Flur der Familienwohnung in Pinneberg. Stand mit dem Kopf vornüber gebeugt, sang dabei vor sich hin — das neapolitanische Lied La Spagnola, jedoch in ihrer Muttersprache, russisch.
Und da merkte sie es: wie kraftvoll ihre Stimme plötzlich klang, welche Resonanz sich auf einmal aufbaute, welcher Fokus sich ausbildete in dieser besonderen Körperhaltung. „Hör mal hin”, rief sie ihrer Mutter zu, „ich kann Oper singen!”. Und auch sie, die Mutter, erkennt die Kraft in der Stimme ihrer Tochter, bestärkt sie: „Vielleicht solltest du mal etwas in dieser Richtung probieren.”
Erst kurz zuvor, erzählt die Sopranistin Katharina Konradi in der Reihe Klassik-Pop-et cetera im Deutschlandfunk, war sie auf klassische Musik gestoßen. Auf einem Flohmarkt der heimischen Stadtbibliothek hatte sie in alten Schallplatten gestöbert, aufs Geratewohl LPs von Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau mit nach Hause genommen. Daheim aufgelegt, habe sie von all den Liedern vor allem das Gretchen am Spinnrade, ein Stück von Franz Schubert, begeistert. Diese „Dichte von Dramatik, die innerhalb von wenigen Minuten in so einem Kunstlied stattfindet”, sagt sie, habe sie fasziniert.
Doch dass sie selber die Power in ihrer Stimme haben würde, um solche Stücke, ja, auch Arien, zu singen, zu dieser Erkenntnis hat es noch diesen einen anderen, diesen ganz speziellen Moment gebraucht: im Flur, kopfüber, bodenwischend, plötzlich auf Du und Du — mit ihrer eigenen, kraftvollen Stimme.
- Katharina Konradi, geboren 1988 in Kirgistan, ist Ensemblemitglied der Hamburger Staatsoper. Sie gastiert außerdem an Häusern wie der Bayerischen Staatsoper und der Dresdner Semperoper und tourt mit Liederabenden. Zu den Opernrollen der Sopranistin zählen unter anderem die Pamina (Die Zauberflöte), die Susanna (Le Nozze di Figaro) und das Ännchen (Der Freischütz).
- In der Sendung Klassik-Pop-et cetera stellt sie sich mit dem Lied Nacht und Träume von Franz Schubert vor, einer Einspielung aus dem Jahr 2018, die hier abrufbar (und bezaubernd) ist: https://www.youtube.com/watch?v=d1DHhxSqK5I
- La Spagnola, das Lied, das sie als Teenager bei der Hausarbeit trällerte und dabei die Kraft ihrer Stimme entdeckte, ist ein Stück des Neapolitaners Vincenzo di Chiara, geschrieben 1906. Ein beschwingter Walzer, der ein wenig an Carmen erinnert, und den auch schon Gina Lollobrigida 1955 in einem Film sang. Wäre spannend, ihn einmal auf russisch zu hören…
- Das Stück, das Katharina Konradi in seiner Dichte, seiner Dramatik vom klassischen Lied überzeugte, Schuberts Gretchen am Spinnrade, lässt sich hier, gesungen von Elisabeth Schwarzkopf, abrufen: https://youtu.be/af6O-syuMUI
- Und wer sich dafür interessiert, anhand welcher weiteren Musikstücke Katharina Konradi bei Klassik-Pop-et cetera aus ihrem Leben erzählt, findet die Auflistung hier: https://www.deutschlandfunk.de/die-sopranistin-katharina-konradi-100.html (Die Sendung selbst ist – leider, und: warum eigentlich?? – jeweils immer nur eine Woche nach Ausstrahlung als Podcast abrufbar, und so ist auch diese hier seit dem 17. September 2022 nicht mehr verfügbar.)
Über diese Reihe
Die Reihe „Der Moment“ wirft ein Schlaglicht auf kurze Situationen, die bestimmten Menschen im Gedächtnis geblieben sind. Weil sie darin etwas erkannt haben, weil ihr Weg von da an eine andere Richtung genommen hat – oder einfach auch, weil sie es hier besonders gespürt haben: das Leben oder die Liebe oder das Glück. Ebenfalls in dieser Reihe erschienen:
Kathi Witt und der Pfiff von Papa
Tobias Kratzer: „Ausgebuht werden ist gar nicht mal das Schlimmste“
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