„Wer sagt denn, dass das falsch ist?”, fragt Elizabeth Gilbert, guckt durch ihre große apricotfarben-umrandete Brille in die Webcam, und ich kann ahnen, dass nicht nur ich, sondern wir alle, erstaunt, mit offenem Mund, vor unseren Bildschirmen hängen. „Wer sagt”, schiebt sie nach, „dass es falsch oder auch nur ein Problem ist, wenn du keinen Fokus hast? Viele Interessen verfolgst? Dich verlierst in Kreativität?“
Es ist ein Q&A mit Elizabeth Gilbert, dem ich hier zuhöre und zuschaue, mit der Bestsellerautorin aus den USA, einer Ikone für Menschen, die gern kreativ sind oder es sein möchten. Ein seltener Live-Auftritt, der über Zoom ausgetragen wird.* Um das neue Jahr geht es, um die Frage, wie und wo wir Inspiration finden, wie wir Ängste überwinden können, um kreativer, schöpferischer zu sein, unsere Neugier zu nutzen. Es geht also um nichts weniger als das große Ganze.
Es geht also um nichts weniger als das große Ganze.
Und ein Teilnehmer fragte also eben dies via Chat: Wie er denn bitte den Fokus finden könne. Er habe so viele Ideen, so viele kreative Projekte, die er dieses Jahr angehen wolle, so viele Dinge, die er lernen wolle, so viele Interessen. „Ich bin selber etwas überwältigt von meiner Neugier“, gibt er zu.
Von flirrenden Kolibris und fokussierten Presslufthämmern
Und das sei doch gar nicht schlimm, meint Elizabeth. Denn, so ihre Beobachtung: Es gebe nun einmal die Hummingbirds, die Kolibris also, und es gebe die Jackhammers, Presslufthämmer. Unsere Welt, unsere Kultur sei für letztere ausgerichtet. Deren Credo lautet: immer mehr, immer weiter, auf ein einziges Ziel zu, schneller, effizienter, mit Druck, mit Kraft, mit Leidenschaft. Behalte den Fokus, behalte das Ziel im Auge, sei stringent, ergebnisorientiert, gucke besser nicht links, nicht rechts. Elizabeth macht mit den Händen eine Scheuklappen-Geste.
Elizabeth macht mit den Händen eine Scheuklappen-Geste.
„Was aber nun, wenn du ein Kolibri bist?”, fragt sie in ihre Webkamera. Denn auch diese Menschen gebe es, sehr viele sogar, die, einem schwirrenden kleinen Vogel gleich, mal die eine Blüte anschweben, das eine Projekt angehen, den einen Gedanken verfolgen, dann aber, schwupps, die nächste Kreativitätsblüte ansteuern, die mal hier was anfangen, auffangen, abfangen, dann stoppen, woanders weitermachen. Die sich Inspiration hier holen, Anregung dort, hier etwas aufbauen, dort etwas anschieben.
Sie sind Fremdbestäuber, oder, wie man das englische Wort dafür („Cross-Pollinators“) schöner übersetzen könnte: Kreuzbestäuber. Liz: „Sie sind sehr wertvoll für unser Ökosystem, eben gerade weil sie von einer Blüte zur nächsten fliegen.“
Unsere Kultur jedoch hat für solche Flattervögel nicht viel übrig, schließlich soll man doch bitte die eine Sache haben, für die man sich einzusetzen hat, den einen Beruf, das eine wichtige Hobby oder Engagement, den Studienabschluss, das veröffentlichte Buch, das fertige Töpferprodukt. Diese Gedanken müssten wir „reframen“, sagt sie, neu denken.
Elizabeth Gilbert – eine Ikone der Kreativistas
Elizabeth Gilbert trifft mal wieder den Nerv der Kreativen. Dafür ist sie bekannt. Sie hat „Big Magic” geschrieben, für manch eine Schreiberin eine Bibel in Sachen Kreativität; sie hat, als Corona über die Welt schwappte, auf ihrem Instagram-Account ihre Gedanken geteilt, Lives abgehalten, Trost gespendet, Mut gemacht. Hat etwas später eine Talk-Reihe ins Online-Leben gerufen, den Onwardbookclub, um Bücher von Schwarzen Frauen zu besprechen, ihrer Kunst ein Forum zu geben.
„Social Media fraß mein Leben auf“
Dann: eine Pause. Social Media sei ihr zu viel geworden, erzählt sie an diesem Abend. Das Posten und Liken und Nachschauen nach den eigenen Likes-Zahlen sei ihr zu einer Besessenheit geraten, von der sie sich befreien musste: „It was eating up my life.“ Es folgte: ein Entzug. Für sie – wie für ihre Follower. Als sie in ihrem Instagram-Account Anfang dieses Jahres plötzlich bekannt gab, sie würde in wenigen Tagen ein kurzes Online-Seminar geben, jauchzte ihre Follower-Schar auf. Ich jauchzte leise mit, meldete mich an.
Und blickte nun in diese absurd großen, schmetterlingsgeformten, getönten Brillengläser, erlebte wieder den Charme ihrer gewitzt-weisen Ausführungen. Was Liz ausmacht, ist klar: Sie erlaubt es sich, quer zu denken, und alles in Bildern, Vergleichen zu beschreiben.
Kreativ sein ohne Ziel
Kolibri statt Presslufthammer also. Es liege so viel Gutes im Umherschweifen, im Kreuzbestäuben, sagt sie. Man ist doch kein menschgewordener Fehler, nur weil man statt einem bestimmten eben viele Interessen hat, vielleicht auch deshalb nicht alles beendet, abschließt, am Ende ein Produkt oder Zeugnis vorzuweisen hat. „Dann mach‘ eben eine Woche einen Töpferkurs“, sagt sie, „und dann, wenn Deine Neugier weiterflattert, flatterst du mit, fängst vielleicht Makramee an oder schreibst ein Gedicht oder machst beides. Why does it have to add up to something?“
Ist es noch Interessensvielfalt – oder schon ADHS?
Why does it have to add up to something… Der Satz klingt nach. Ich schaue vom Zoom-Bildschirm auf, gucke in meinem Zimmer umher und sehe:
- den Berg mit ausgewählten, etwas älteren Klamotten, ready zum Upcyceln
- meine im Raum thronende Schneiderpuppe
- die Stricknadeln, die Wolle
- die ganzen kleinen Bücherstapel (unterteilt, nach Themengebieten, nach Sachbuch und Roman und Kurzgeschichtenband, Strickbücher, Nähbücher, zwei Beatles-Lyrics-Bände; und Überraschung: Sie schauen nicht strafend zurück, sondern eher, ja, lockend)
- die Joggingschuhe
- die Membercard fürs Fitnessstudio
- die Yogamatte
- die Anzuchtschalen für neue Gartenpflanzen, die Saattütchen
- die frisch gekauften Aquarell-Buntstifte, mit denen ich Mode malen will, bevor ich sie schneidere
- das Keyboard, an dem ich Lieder einstudieren möchte (Beatles! Dolly Parton! Die Mezzo-Arie aus Samson und Delilah!)
- die Rezeptesammlung, die ich mir aus Insta herausgezogen habe
- die Psychologie-Bücher, die ich alle durchgehen, vielleicht auch darüber schreiben will
- das Notizheft für diesen Blog
- das Notizheft für den Schrebergarten
- das Notizheft mit Buchlisten, Podcast-Listen, Museumslisten
So viele Ideen und Projekte und Gedanken und Möglichkeiten und Interessensfelder, Kitzelfelder, so nenne ich sie auch: Sie kitzeln etwas in mir. Ich nenne das ja: Leben.
Obwohl…? Gerät das Ganze nicht langsam etwas…pathologisch?
„Du bist nicht gleich ein ADHS-Kandidat, nur weil du dich nicht auf eine einzige Sache fokussierst”, sagt Liz in dem Moment zum Chat-Fragesteller, zu uns, zu mir. Puh. Ich atme auf. Vielleicht musste ich das mal hören.
Dann aber denke ich: Sie hat gut reden, wenn sie uns sinngemäß zuraunt: „Erlaubt euch das Kolibri-Dasein.” Es mag leicht sein für eine Schriftstellerin, die Millionen verdient haben muss mit ihren Büchern, mit Filmlizenzen (ich erinnere an Eat, Pray, Love; Julia Roberts, Ihr wisst schon), die in ihrer hübschen umgebauten Mühle in New Jersey oder Upstate New York oder wo auch immer sitzt (was ich ihr von Herzen gönne), die ausgesorgt haben muss (auch das: gegönnt).
„Ich habe keine Zeit, kreativ zu sein”, schreibt auch eine weitere Teilnehmerin im Q&A-Chat, die sich so gern dem Schreiben widmen würde — aber der Alltag, das zu spülende Geschirr, die zu begleichenden Rechnungen, wann solle sie sich bitte an den Schreibtisch setzen?
Keine Zeit für Kreativität? Prioritäten setzen!
Auftritt nächste Anekdote Elizabeth Gilbert. Sie habe einmal, da war sie noch arm und New Yorkerin und wollte doch so gern wenigstens Schriftstellerin und New Yorkerin sein, eine befreundete Autorin getroffen, die gerade ihr erstes Buch veröffentlicht hatte. Voller Ehrfurcht habe Liz sie gefragt: „Wow, ein eigenes Buch! Wie schaffst Du das nur?” Sie selber komme so gar nicht zum Schreiben, sie hätte vier Jobs, um sich über Wasser zu halten, sei Barfrau und Kellnerin und Au-Pair und verkaufe nebenbei auch noch Schmuck auf einem Flohmarkt. Wenn sie all das nicht machen müsse, sagte Liz, ja, dann hätte sie Zeit, dann könne sie auch endlich was schreiben, was dann auch veröffentlicht werden könnte, so aber… klag, klag.
Die Bekannte schaute Elizabeth an und fragte sie, fast beiläufig, nach ihrer liebsten TV-Serie. Fragte, im Verlauf ihres Gesprächs, nach Liz’ liebsten New Yorker Restaurants, nach ihren liebsten Autorinnen und Autoren. Und dann sagte sie: Liz, Du hast offenbar Zeit, fernzusehen. Du hast – offenbar – Zeit, mit deinen Freunden ins Restaurant zu gehen. Du hast Zeit, Bücher zu lesen. So good for you! Aber – du hast keine Zeit zu schreiben?
Okay, I get it, dachte Elizabeth da. Und okay, we get it, denken auch wir.
Elizabeth‘ Tipp: „Macht eine ehrliche Inventur eurer Zeit“
Es geht um Prioritäten. Dinge, die wir, auch wenn wir sie gern tun, links liegen lassen müssen, um das zu tun, was wir am liebsten tun wollen. „Macht eine ehrliche, ja, schmerzhaft ehrliche Inventur“, sagt Elizabeth, „darüber, was und auch wer Eure Zeit bekommt.“ Sie selber habe Stunden, Jahre, ach was, ihre ganze Jugend, damit verschwendet, neben einem Typen auf der Couch zu sitzen, verrät sie uns, und einen Arnold-Schwarzenegger-Film nach dem anderen zu sehen, nur damit sie mit ihm zusammen sein konnte (mit dem Couch-Typen, nicht mit Arnold). „Was würde ich tun, um diese Jahre zurückzubekommen!“
Ich weiß nun nicht, ob diese Sichtweise, dieses Prioritätensetzen in der Freizeit auch der alleinerziehenden Mutter hilft, die es nach einem alltäglichen Tag vielleicht noch nicht einmal schaffen würde, ins Restaurant zu gehen (geschweige denn, ob sie dies auch bezahlen kann) oder ein Buch zu lesen, die selbst bei ihrer Lieblingsserie schon einschläft vor Kraftlosigkeit. Vielleicht hätte man Liz hier noch einmal mehr auf den Zahn fühlen müssen. Doch da war schon die Zeit um.
Liz kann nur Impulse geben, sie kann nicht die Welt retten. Und das sollte man auch nicht von ihr verlangen wollen. Sie hat, das ist sicher, an diesem Abend eine Menge Menschen vor den Bildschirmen berührt, sie genährt mit ihren Geschichten, sie zum Lächeln gebracht mit ihrer rosafarbenen Schmetterlingsbrille, mit ihren ausgesprochenen, überraschenden Gedanken.
Das bezeugen all die vielen Dankesnachrichten, die gegen Ende der Veranstaltung durchs Chatfenster hüpfen, flirren.
Fast ein bisschen wie – Kolibris.
(Es folgen Verweise und Links. Manche mögen das „Werbung“ nennen, ich nenne das: aufmerksam machen, Infos nachreichen (unbezahlt)).
Mehr Infos:
- Wer mehr über die Kolibri-Theorie hören möchte: In einem tollen „Super-Soul“-Talk mit Oprah Winfrey hat Elizabeth Gilbert sie vor einiger Zeit schon einmal ausführlicher erläutert… https://open.spotify.com/episode/09hRge9mnlSlWWwJn4vQ3d?si=SXKwTe6JSHSxaKd978AEwg
- „I think this might be the most important subject I’ve ever talked about“, schreibt sie dazu übrigens auf ihrer Facebookseite: „For those of you who are suffering from shame because you’ve never found your “passion”….oh, my dear tired beautiful hummingbirds, this one is for you. I love you. You’re perfect.“
*Das Q&A war Teil eines zweistündigen Webinars mit Gilbert, organisiert von der School of Life Amsterdam // Teilnahme selbst bezahlt; unbeauftragte Werbung.
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