Du warst der Junge in der grünen Jacke.

Natürlich hattest Du noch mehr Jacken, an eine blaue erinnere ich mich. Und an eine schwarze.

Aber es war diese grüne, an der ich Dich immer schon von weitem erkannte, damals auf dem Schulhof. Und an Deinem Gang. Immer ein wenig schief, so schien es. Auf der einen Seite hattest Du einen Rucksack geschultert, und so liefst Du dann, mit großen Schritten und einem offenen Blick, vor Dich hin. Zum Bio-Leistungskurs. Zur Musikstunde. Oder zum Englischkurs, wenn ich Glück hatte, denn den hatten wir gemeinsam.

Als ich Dich zum ersten Mal sah, hast Du in einer Zeitschrift geblättert, einer Zeitschrift für Gitarren. Ein Musiker, dachte ich damals. Und: was für schöne Haare. Ich fand heraus, wie Du heißt, in welche Klasse zu gingst – und war aufgeregt, als unser Jahrgang ein paar Monate später durcheinandergewürfelt, neu strukturiert – und wir in eine Klasse geworfen wurden. Der Junge mit der Gitarrenzeitschrift und der grünen Jacke und ich – hatten nun viele Schulstunden gemeinsam.

Und da stellte ich fest, dass Du nicht nur gut aussahst. Du warst ein Netter. Immer mit den Coolen, Lauten zusammen, ja. Aber auf Deine Weise wieder sehr ruhig, in Dich gekehrt, einer von den Guten.

Ich beobachtete Dich. Nicht auf diese stalkige, ungesunde Weise. Sondern immer wieder mal, im Unterricht, wenn Du Dich meldetest – das tatest Du nicht oft – und etwas sagtest. Da hörte ich zu, versuchte, daraus auf Deinen Charakter, Deine Gedanken zu schließen. Meistens waren es kluge Dinge, die Du sagtest, meist Einfühlsames, das Deinen Sinn für Beobachtungen zeigte.

Zwei Jahre lang schwärmte ich Dich aus der Ferne an. Freute mich über jeden Blick von Dir, über jedes Lächeln, jedes noch so kurze Gespräch. Ich traute mich nicht, mehr zu unternehmen, wollte mir keine Blöße geben. Wir lebten in unterschiedlichen, ja was? Kasten? Biosphären? Du warst ein Steinberg-Junge, ein Reihenhaus-Teenager, einer aus dem bürgerlichen Lager. Ich fühlte mich dagegen wie ein Arbeiterkind. Anderer Wohnort. Andere Herkunft, andere Schicht.

Manchmal, etwas später dann, als der Jahrgang irgendwie zusammenwuchs, sich die Cliquen mehr vermischten, wie das eben so ist, so in den letzten Monaten vorm Abi, wenn sich auf einmal alle lieb haben, da trafen wir uns auf Partys. Ich erlebte, wie Du am Lagerfeuer Gitarre spieltest, und ich hörte Deiner Musik zu, als Du bei einer anderen Feier Platten auflegtest. Einmal haben wir uns da sogar unterhalten. Über Purple Schulz, glaube ich, und Du spieltest das Lied, in dem es geht: „Guck mal, so schöne Leute“, ich weiß bis heute nicht den genauen Titel.

Kurz vorm Abi kamst Du dann mit dem hübschesten Mädchen der Schule zusammen. Selten kam mir etwas folgerichtiger vor. Und ich habe es Dir gegönnt. Habe es auch ihr gegönnt. Ihr wart ein Paar wie aus dem Bilderbuch. Guck mal, so schöne Leute.

Danach weiß ich nicht mehr viel. Wir schwärmten alle aus, nach der Schule. Ich verliebte mich in andere Jungs, mal mehr, mal weniger als damals in Dich. Manchmal hörte ich noch von Dir, über drei Ecken. „Ich habe Christian gesehen, er macht jetzt eine Ausbildung.“ „Übrigens, Ro, Dein Christian (ich wurde es lange nicht los), der studiert jetzt, ich habe ihn auf dem Campus getroffen.“ Freundin, Job, Wohnort. Ja, so manches hab ich mitbekommen.

Doch auf das, was M. mir gestern erzählte, war ich nicht vorbereitet. Die Krankheit, die tückische, sei noch einmal ausgebrochen. Heftiger diesmal. Bösartiger. Du hattest Dich eben neu verliebt, warst umgezogen, neues Leben. Und dann machte Dein Körper nicht mehr mit.

Du, der Junge in der grünen Jacke – und alles, was Du danach wurdest –, Dich gibt es nicht mehr.

Du, der Junge in der grünen Jacke, wurdest vor zwei Tagen beerdigt, in der Nähe der Reihenhaussiedlung, in der Du aufgewachsen warst, in der Nähe des Jugendzentrums, in dem Du Purple Schulz aufgelegt hast, und in der Nähe der Schule, in der wir gemeinsam Romeo & Julia gelesen haben.

Ich denke in diesen Stunden an Dich. Trauere um Dich. Und ich lege Purple Schulz auf. Mögest Du lauter schöne, gute Leute um Dich haben.

Wo auch immer Du nun bist.