FOTOGRAFIN BARBARA KLEMM ÜBER STEHVERMÖGEN UND TÄNZELNDE BILDER //
Immer wieder klettert sie auf VW-Busse und auf Lieferwagen, verteidigt über Stunden ihren Platz auf Podesten oder sonstigen Erhöhungen, stemmt sich tapfer gegen Menschenmengen, die von hinten drängen und stoßen und die kleine, zierliche Frau fast niedermalmen. Über 14 Stunden ist sie einmal pausenlos auf den Beinen, am Tag nach dem Mauerfall ist das, sie läuft und guckt durch Berlin, durch Ost und durch West, nicht ein Mal hinsetzen, nicht ein Mal etwas essen oder trinken erlaubt sie sich.
Die Bilder wollen geschossen werden.
Barbara Klemm ist zäh, und das müsse man als Fotograf auch sein, wenn man, so sagt sie, „nicht untergehen“ wolle: „Ein Fotograf braucht Mordsstehvermögen und muss beweglich sein.“
Was dann aber dabei herauskommt, wenn man nur hartnäckig und leidensfähig und konzentriert genug ist, zeigte die Frankfurter Fotografin heute in einem Vortrag samt beeindruckender Mini-Retrospektive in der Freien Kunstakademie Frankfurt (danke an Faust Kultur für den Tipp – ohne den ich nicht von der Veranstaltung erfahren hätte): Klemms Bilder eignen sich, das wurde deutlich, für einen Ritt durch ein großes Stück deutscher Geschichte: die Studentenunruhen, das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt, überhaupt die verschiedenen Machtwechsel in der deutschen Bundesregierung, und vor allem: die Einheit.
Als langjährige Redaktionsfotografin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war die gebürtige Münsteranerin stets dabei, wenn, vielleicht nicht immer Welt-, aber doch Landbewegendes passierte. Einige ihrer Bilder, durchweg schwarz-weiß aufgenommen, sind heute Ikonen: Turnschuh-Fischer bei der Vereidigung im Parlament etwa. Oder auch das Foto vom Bruderkuss zwischen Honecker und Breschnew, von dem sie sich aber heute beeilt zu sagen, ganz bescheiden, es sei eben nicht das Vorlagenbild für das bekannte Graffiti an der Berliner Mauer gewesen, „das hatte ein französischer Kollege gemacht, der zu spät zum Termin kam, deshalb noch ein Teleobjektiv auf seiner Kamera hatte, sich genau hinter mich stellte, schnell auf den Auslöser drückte und so dieses berühmte Close-up produzierte.“
Barbara Klemm schmückt sich nicht mit fremden Federn. Aber genauso wenig, und das fällt auf, mit ihren eigenen Bildern. Im Gegenteil. Mit dem Respekt, ja, fast der Bewunderung einer Unbeteiligten präsentiert die heute 77-Jährige ihre, so Klemm, „bereits historischen“ Werke; als hätten sich die Bilder selbst geschaffen, als hätten sich Ausdruck, Schönheit, Komposition irgendwie gefunden, und sie, die Fotografin, hätte nicht viel dazu beigetragen, außer vielleicht auszuharren und „Glück zu haben“, wie sie ein ums andere Mal betont, als sei sie nur das auslösende Moment gewesen.
„Ich bin ein Lichtbildner“
„Schauen Sie mal, wie sich die längliche Struktur der Finger des Komponisten in seinen Notenbüchern im Hintergrund wiederholt“, schwärmt sie etwa, beinahe zärtlich, beinah selbst erstaunt ob solcher Ästhetik in einem ihrer Portraits. „Tanzbilder“ nennt sie außerdem jene Aufnahmen, auf denen Menschen so gruppiert sind, so agieren, als würden sie sich spielerisch umeinander bewegen – sie gehören ganz offensichtlich zu ihren Lieblingsfotografien. Oder hier, Kohl bei seiner „für ihn schwierigsten Rede seiner Karriere, wie er später sagte“, im Dezember 1989 in Dresden. „Sieht es nicht – mit diesem Licht – ein wenig aus wie ein Gemälde?“ Überhaupt das Licht, es ist ihr ein immerwährender Spielgefährte. „Gerade Gegenlicht kann sich ein Fotograf zunutze machen, wenn er Menschenmengen aufnimmt“, erklärt sie. Dann erscheine hinter den einzelnen Köpfen oft ein kleiner Schimmer, ein Schein, würde jeder Kopf optisch noch einmal verstärkt. „Im Grunde bin ich ein Lichtbildner.“
Spannend auch ihre inhaltlichen Kommentare, ihre eigenen Interpretationen: Etwa zu jenem Bild von Helmut Kohl, aufgenommen, kurz nachdem er als Kanzler vereidigt wurde: „Sitzt er nicht in seinem Stuhl, als würde er daraus so bald nicht mehr aufstehen?“ Lachen im Publikum. Und ein ganz ähnliches Motiv nur mit anderem Protagonisten und Jahre später aufgenommen: Joschka Fischer, ebenfalls in neuem Stuhl und Posten, dem des Außenministers. „Das sei die schönste Hausbesetzung“, habe er damals gesagt, erinnert sich Klemm. Und dann das – ebenfalls schon zur Ikone avancierte – Foto der deutschen Politiker vor dem Reichstag bei der Feier der Deutschen Einheit im Jahr 1990, unter ihnen Genscher, das Ehepaar Kohl, Brandt: „Das Bild habe ich mit Tele und ohne Blitz gemacht – deshalb kommen die Gesichter so gut zur Geltung“, erklärt Klemm. „Und trägt nicht jeder einen anderen Gesichtsausdruck? Die Kohls glücklich über das Geleistete, de Maizière, der weiß, dass seine Tage an der Macht gezählt sind, Brandt unglaublich gerührt.“
Und schließlich das ebenfalls sehr bekannte Bild von den DDR-Funktionären aus dem Jahr 1979, in Reih und Glied aufgestellt zur 30-Jahr-Feier, Honecker mittendrin, die Hand hebend. Drei bis vier Stunden hat Klemm ausgeharrt, um schließlich diese Aufnahme zu machen. „Sehen die Männer mit ihren Hüten nicht ein wenig aus wie von der Mafia?“ sagt sie und erntet erneut Lacher. Und verrät: „Einige von ihnen schauen nur deshalb zu mir in die Kamera, weil sie erstaunt darüber waren, unter den Fotografen eine Frau zu sehen.“
Schnell die Kurve kratzen
Tatsächlich sei sie, eben weil sie eine Frau sei, oft unterschätzt worden – was sie jedoch ganz ohne Bitterkeit erzählt. „Das hat mir ja durchaus auch manchmal genützt.“ Man habe eben nicht weiter auf sie geachtet, sie habe recht frei und unbemerkt ihre Bilder machen können. Geholfen habe ihr auch, gerade bei ihrer Straßenfotografie in Südamerika, China oder der damaligen Sowjetunion, dass sie nie hochprofessionell aufgetreten sei, eher wie jemand, der daher schlendert „und dann, im richtigen Moment, mit seiner Leica ein Foto macht.“ Eher selten fragt sie ihre Protagonisten auf der Straße, ob sie sie fotografieren dürfe – „das verändert die Situation zu stark, außerdem konnte ich ja oft deren Sprache nicht“, aber mit Lächeln, vorsichtigem Herantasten kommt sie dennoch zu ihren Aufnahmen. „Manchmal muss man sich eben ein wenig durchmogeln, sich der Umgebung anpassen.“ Und wenn sich anschließend, nachdem sie auf den Auslöser gedrückt hatte, doch jemand aufregte, jemand vom jeweiligen Politbüro etwa, „dann musste man eben gucken, dass man schnell die Kurve kriegte.“
Heute, das räumt sie ein, seien Aufnahmen von Privatpersonen auf der Straße kaum mehr möglich. „Die Menschen sind heute zu empfindlich, wenn eine Kamera auf sie gehalten wird. Sie machen zwar unentwegt Selfies und laden sie im Netz hoch – aber wenn sie selbst von jemand Fremden auf der Straße fotografiert werden sollen, wehren sie schnell ab.“
Über anderthalb Stunden erzählt Barbara Klemm von ihrer Arbeit, von den Momenten, in denen ihre Bilder entstanden, lässt uns an Hintergründen teilhaben. Heiser ist sie, durch eine Erkältung angeschlagen. Doch sie hält tapfer durch. Barbara Klemm ist eben auch heute noch – eine ganz Zähe.
Wer mehr von Barbara Klemm sehen will: Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst hält online eine kleine Werksübersicht von ihr bereit: https://www.mmk.art/de/whats-on/barbara-klemm/
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