AUF DEN SPUREN FRANKFURTER GEHEIMNISSE // Frankfurt ist alt, Frankfurt hat eine Geschichte. Besser noch: viele Geschichten. Das ahnen wir doch eigentlich alle, die wir täglich durch seine Straßen gehen. Und doch sehe ich sie nur selten, die Falten dieser Stadt, die grauen Stellen im Haar, kenne nicht die vielen in ihre Haut eingegrabenen Legenden und Anekdoten. Was ich im Vorbeiradeln wahrnehme, sind moderne Häuser, in den letzten Jahren oder zumindest in den letzten Jahrzehnten hochgezogen, außerdem blinkende, lockende Geschäfte und Restaurants. Das meiste, was hier alt ist oder alt anmutet, ist gleich denn auch Touristenattraktion. Ist Städel, ist Römer, ist Alte Brücke und Alt-Sachs, ist Eiserner Steg und Eichkatzerl. Wird nostalgisch betrachtet, fotografiert, ach guck, wie merkwürdig, so was Uriges, hier in der City, ach guck, ein 150 Jahre altes Gartengeschäft namens Samen-Andreas mit Uralt-Logo, ach guck, ein Stück alte Stadtmauer, ach guck-und-schmeck, hmmm, Wacker’s Kaffee.
Und auch, wenn ich sie nur selten bewusst wahrnehme – ich liebe diese alten, in die heutige Stadt wie hineingetupft wirkenden Aus-einer-anderen-Zeit-Flecken, Altersmale, wenn man so will, die zeigen, wie viele Jahre mein wunderbarer Ort schon auf seinem Buckel hat. Wirklich wissen aber tue ich – nichts.
Anders Michael Luh.
Es regnet, als er uns an der Hauptwache empfängt. Doch das macht ihm nichts, das macht uns nichts, unserer kleinen Stadtführungsgruppe, die wir mehr über die Stadt wissen wollen, denn er beginnt von Heidis Heimweh zu erzählen. Können Sie sich erinnern?, fragt er. „Wie das kleine Mädchen, durch Frankfurt laufend, einen Ort sucht, auf den es hinaufsteigen kann, von dem aus es die Schweizer Berge sehen kann?“ Wir stehen vor der Katharinenkirche. Blicken hinauf. Luh zeigt uns einen Screenshot von der Zeichentrickserie aus den Achtzigern, und tatsächlich: Heidi läuft darauf auf ein Gebäude zu, das der Kirche hier sehr, sehr ähnlich sieht.
Michael Luh weiß, dass die japanischen Heidi-Zeichner damals durch Frankfurt gestreift sind, auf der Suche nach Architektur und Stadtansichten, die sie in ihre cineastischen Szenenbilder einbauen konnten. Und er weiß, dass die Autorin Johanna Spyri, die in ihrem 1880/1881 erschienenen Heidi-Buch ein Frankfurt in Worten zeichnet, nie in dieser Stadt gewesen war. Stattdessen aber war sie Goethe-Fan, hatte dessen Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ gelesen und sich so ein ganz eigenes, imaginäres Bild von der Stadt geschaffen, es in ihre Heidi-Erzählung einfließen lassen – „auch wenn sie dabei mal eben hundert Jahre Architektur- und Stadtentwicklung übersprungen hat“, so Luh.
Auch ich überspringe jetzt einiges, denn ich möchte nicht zuviel von Luhs Geheimnissen verraten. Der zertifizierte Gästeführer und Reiseleiter hat, das wird schnell deutlich, viel Zeit und Mühe reingesteckt, viel Recherche betrieben und Wissen angehäuft, um mit den daraus gezogenen kleinen, feinen Extrakten seinen Mitläufern und Zuhörern diese Stadt nahezubringen (mit, wie ich entzückt bei seinen ersten Worten feststelle, herrlich-schönem hessisch geprägten Sprachklang).
Wir werden im Laufe unserer zweistündigen Führung an ein Gebäude gebracht, das offiziell überraschend anders heißt als gedacht, es wird um Waren- und Geldhandel gehen und um den Aufstieg einer freien Stadt, um Wehrbefestigungen und Erdhügel, und ich erfahre, warum ich, wenn ich durch die Wallanlagen radele, mich immer so merkwürdig ineffektiv geleitet fühle, auf merkwürdig zick-zackig angelegten Wegen (geht es noch jemandem so?). Es wird um Gullideckel gehen und um Goethes Mama, an deren Grab heute Kinder toben, und um Goethes Papa, der 100 Meter entfernt, halb versteckt und überwuchert mit Efeu, begraben liegt; und um ein Irrenhaus, das einst nur 20 Gehminuten entfernt von der City lag – und den Frankfurtern damit viel zu nah an ihrem Alltagsleben. „Man hat die Nase hier zuweilen ganz schön hoch getragen“, sagt Michael Luh.
Ja, das haben sie wohl, die Frankfurter, aber sie waren auch sehr liberal. Auch das sagt Luh immer wieder – und belegt es mit Geschichten. Hier durften Juden und Christen lange Seit an Seit leben, stand eine Synagoge direkt neben dem Dom, hatten Protestanten einen Ort neben den Katholiken, hatte die LGBT-Community einen Platz, wo sie friedvoll und geschätzt leben durfte. Und als die große Seuche der Neuzeit ausbrach, eine mysteriöse Krankheit namens Aids, gehörte Frankfurt zu den ersten Städten, die eine Stätte zum Trauern und Gedenken schafften. Auch den zeigt uns Michael Luh – und ich begreife, dass ich schon zig-Mal daran vorbeigelaufen bin, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben.
Was solche Führungen machen: Sie öffnen Augen. Sie bringen uns einen Ort näher, der gegerbt ist von Geschichten, für die zu erkennen es aber einfach Wissen braucht. Mir ist Frankfurt, meine wunderschöne, geliebte Stadt, noch einmal nähergerückt. Ich werde, wenn ich fortan ins Café Karin gehe, Hirsche springen sehen; werde, wenn ich das nächste Mal einen alten Frankfurter davon sprechen höre, „ei, du gehörst uff de Affenstein“, wissen, was er meint, und ich werde jedes Mal an ein kleines Mädchen namens Heidi denken, wenn ich an der Katharinenkirche vorbei gehe. Die Alpen werde ich dabei nicht vermissen.
(rechtl. Hinweis: Werbung. Aber ohne Geld oder sonstige Gegenleistung — sondern, weil ich’s gut finde)
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