Manche hier sind wirklich erstaunlich gut vorbereitet. Ich sehe, wenn ich den Blick so über unsere kleine Gruppe wandern lasse: Klemmbretter. Kugelschreiber. Lupen. Tupperdosen, leere.

Tupperdosen? „Ja, kann ja sein, dass wir hier große Beute einfahren“, sagt Renate und grinst.

Jeder von uns, die wir hier am Rande des Frankfurter Stadtwalds stehen und auf den Beginn unserer kleinen Wanderung warten, hat offenbar so seine Erwartungen, und so sehen meine aus: Ich bin ein wahres Stadtkind, und als solches habe ich nicht die Spur einer Ahnung, woran man, sagen wir, eine Erle erkennt. Oder Schwarzdorn. Oder eine wilde Himbeere, zumindest nicht, solange keine Früchte dranbaumeln.

Ich sehe das Leckere vor lauter Bäumen nicht.

Für mich ist der Wald, wenn ich mich in ihn hineinbegebe, eine fette, große, undefinierte Leinwand an: sehr viel Grün. Gut, unterschiedliche Schattierungen, hier Tannengrün, dort Grasgrün, mittendrin was Braunes, Gelbes, Rötliches. Ansonsten sehe ich das Gute, das Leckere, das Heilbringende vor lauter Bäumen nicht. Und ist das nicht jammerschade?

Das ist es nun also, was uns Marion Bredemeier heute nahebringen will, eine Phytotherapeutin, die Menschen wie mich (und auch welche mit etwas mehr Ahnung) hauptberuflich durch Wiesen und Wälder führt und einzelne Pflanzen und deren Wirkungsweisen erklärt. Was kann man wie verwenden, was etwa als Sud anmischen, als Tee aufkochen, welchen Saft für Hautanwendungen nutzen, was gar in einen Salat schmeißen? Und wie erkennt man überhaupt die unterschiedlichen Pflanzenarten, unterscheidet das eine Grün vom anderen?

Was ich bislang schaffe: Vogelmiere, Check. Beifuß (kommt bei uns immer an und in die Weihnachtsgans), Check. Und Efeu, klar, den kennt nun jeder.

Efeu statt Persil ultra

Wusstet ihr aber, dass man Efeu tatsächlich für den Haushalt nutzen kann? „Efeu enthält Saponine“, erklärt uns Marion, „sogenannte waschaktive Substanzen“, und zeigt auf die schönen dunkelgrünen Blätter am Boden vor uns. Macht man die Blätter klein, reißt sie etwas an, füllt sie in ein Säckchen und legt dieses zur Schmutzwäsche in die Wäschetrommel, erhält man ein wirklich brauchbares Waschmittel, sagt sie. Sie selbst nehme immer so 15 bis 20 Blätter, das reiche für eine Waschladung aus. Ich bin baff, allein für diese Info hat sich die Wanderung gelohnt – ich merke mir das für ein „Romelly-Erstes-Mal-Experiment“. Doch wir lassen das Ariel- und Persilfeld links liegen, laufen weiter, zum Gundermann.

So heißt eine niedliche Pflanze (ja, Kategorien, in denen Botaniker wohl eher nicht so denken), deren Blätterchen sich gut in Wildkräutersalaten machen: Sie schmecken würzig, eignen sich auch für Kräuterbutter oder Brotaufstriche, „Soldatenpetersilie“ habe man sie früher auch genannt, sagt Marion. Ich mümmele vor mich hin und bin ganz vergnügt. Man läuft durch den Wald und hat alle paar Meter – wenn man denn Bescheid weiß – eine kleine Versorgungsstation, das ist doch fantastisch! Nicht weit vom Gundermann entfernt gleiches Spiel mit der Knoblauchrauke. Wächst einfach so, mitten im Wald, kann man pflücken und mitnehmen und verarbeiten und – Halt.

Was ist denn mit dem Fuchsbandwurm?, will eine Teilnehmerin wissen. Und mir kommt meine Mama in den Sinn. Brombeeren bitte nur von oben pflücken, schärfte sie uns ein, Beifuß (den für die Weihnachtsgans) besser auch nicht wild ernten, sondern lieber auf dem hiesigen Wochenmarkt einkaufen, denn er kann ja dran gewesen sein: der Fuchs, mit seinem bösen Wurm. Marion lächelt milde und wissend und erklärt: Der Fuchsbandwurm ist ein Parasit, der im Darm seines Wirtstieres, des Fuchses also, lebt; streunert dieser durch das Grün des Waldes und hinterlässt hier seinen Kot, hinterlässt er – so er infiziert ist – auch die Bandwurmeier. Pflücken wir Menschen nun die Pflanzen, Kräuter oder Beeren und essen sie, ohne sie vorher zu waschen, besteht, so heißt es in den Medien, eine Gefahr, dass wir diese Eier zu uns nehmen. Das Bedrohliche: Gelangen sie einmal in unsere Körper, können sie hier zu Zysten führen, etwa in der Leber oder der Lunge – „alveoläre Echinokokkose“ nennt sich diese Krankheit.

Gefahr Fuchsbandwurm

Hört man Marion zu, bekommt man den Eindruck, das alles sei eine aufgebauschte Geschichte, eine Art Fake-News, hervorgebracht von einer Förster- und Jägerlobby, die uns Hobbypflücker vom Wald fernhalten will. Tatsächlich habe es nämlich, so Marion, die laut eigener Aussage viel im Austausch steht mit hiesigen Umweltverantwortlichen, zuletzt kaum bis gar keine Fuchsbandwurmfälle in der Gegend um Frankfurt gegeben, man könne also ganz beruhigt seinen Gundermann und seine Knoblauchrauke pflücken – und essen.

Ich gucke trotzdem sicherheitshalber mal nach. Nach aktuellstem Stand des Robert-Koch-Instituts (RKI), nämlich dem von Oktober 2019, waren im Jahr 2018 immerhin 56 Menschen in Deutschland an alveolärer Echinokokkose erkrankt, davon 80 Prozent in Bayern und Baden-Württemberg. Von einer „deutlichen Dunkelziffer“ sei auszugehen, schreibt das Institut in seinem Bulletin. Doch ebenso gilt — das schreibt die Ärzte Zeitung –: Im Wald gesammelte Beeren oder auch Pilze seien noch von „keiner Studie als Risikofaktor identifiziert worden“. Die Zeitung zitiert einen Biologen, demzufolge man schon „mehrere Hundert Eier“ aufnehmen müsste, um sich zu infizieren. Die Beeren müssen dafür also schon sehr mit Fuchskot verunreinigt sein – und so eine Beere würde kaum jemand gern pflücken, geschweige denn essen.

Ach, vielleicht haben sie alle ein bisschen Recht: Marion, das RKI, die Biologen und meine Mama. Ich mache mich nicht verrückt, werde nun aber auch nicht unbedingt die untersten Beeren abrupfen, wenn auch oben welche wachsen.

Kein Problem habe ich damit bei den Früchten der Kornel-Kirsche, die bald vor unseren Augen baumeln. Ja, ganz recht, eine Kirsche, und man kann sie pflücken, jetzt im September. Von der hatte ich vorher noch nie gehört, und war nun umso entzückter. Die Kornel-Kirsche sieht aus wie eine dieser Früchte, die man nie, nie, nie abreißen und sich in den Mund stecken würde, einfach so, auf gut Glück. Zu unbekannt sieht sie aus, zu gefährlich irgendwie, nach Mundpusteln und Bauchweh. Schön rot, dabei etwas länglich, ein bisschen wie eine Mischung aus Sauerkirsche und Hagebutte. Aber Marion macht uns Mut: „Probiert sie mal, sie könnte euch schmecken!“ Und tatsächlich: Man muss vielleicht Fan von Sanddorn sein, von diesem leicht säuerlich-herben Geschmack – aber dafür, dass man im Septemberwald nun außer Brombeeren wahrlich sonst keine Fruchtbomben mehr serviert bekommt, ist dieser Fund hier ein Gaumenglück. Renate zückt ihre Tupperdose.

Eine ordentliche Mutprobe gehört doch zu jedem Waldstreunern dazu

Es geht weiter, über Weißdorn und Schöllkraut und Nelkenwurz, an Erlen und Eschen und Haselnuss vorbei, sogar der Brennessel widmen wir uns: Die könne man nämlich sehr wohl essen, wenn man vorher die Härchen, die kleinen Nesseln also, gewissenhaft umknickt, sagt Marion. Sie reißt dafür ein Blatt ab und rollt es geübt mit ihren Fingern, ich tue es ihr nach, streiche aber – so zeigt es mir eine erfahrene Teilnehmerin – die Härchen oben und unten auf dem Blatt nochmal ordentlich mit den Fingern nieder. Streiche nochmal. Und nochmal. Gebe mir einen Ruck. Und stecke mir das Blatt in den Mund. Meine erste Brennessel. Gehört ja auch zu jedem abenteuerlichen Streunern durch den Wald dazu, denke ich: eine kleine Mutprobe. Gut schmeckt sie, die Brennessel, irgendwie „grün“, gesund und frisch.

Wenige Zeit später bizzelt es tatsächlich etwas auf meiner Lippe und in meinem Mund. Aber das kann auch das Himbeerblatt gewesen sein, die Vogelmiere, die Brombeere, die Knoblauchrauke, die zehn, zwölf anderen Blätter, deren Namen ich mir irgendwann gar nicht mehr alle aufgeschrieben habe, aber fröhlich in den Mund gesteckt habe. Der Wald ist voll davon. Voll von Kräutern und von Pflanzen, die man für alles mögliche verwenden kann: für Giersch-Gurken-Salat etwa, wie er in einem Blatt steht, das uns Marion noch aushändigt, oder für Wildkräuter-Tomatensalat; hier taucht auch der Gundermann, mein persönlicher Favorit des Tages, wieder auf. Oder für Heilkräutertees: Birke (harntreibend und nierenanregend) oder Gänseblüchen (appetitanregend, hautberuhigend), Hundsrose (abwehrsteigernd), Waldmeister (krampflösend). Gegen alles, so scheint es, ist ein Kraut gewachsen.

Ich gehe glücklich nach Hause. Mit dem Gefühl, es gibt viel mehr, als wir gemeinhin sehen und erkennen, so viel mehr Heilendes und Wohlschmeckendes — in dem großen, gewaltigen, gewichtigen Grün, das wir so simpel: Wald nennen.

 

Wer mehr wissen will: Marion betreibt eine Natur- und Heilpflanzenschule – http://www.mitweltaktiv.de – und bietet im Umkreis von Frankfurt regelmäßig Seminare und Wanderungen an. // (Unbezahlte Werbung)

Der Gundermann.

 

Die Kornelkirsche.

 

Die Brennessel. Ja, man kann sie essen.

 

Die Erle, die wunderschöne.

 

…und etwas Ariel ultra am Wegesrand. Kann man ja mal ausprobieren.