Das sind meine Jungs, denke ich, als mir diese vier Typen entgegenkommen: alle im gleichen schwarzen T-Shirt, der Schriftzug „Äppler“ in weißen Lettern quer über ihren Brustkörben, aus den Augenwinkeln lese ich später noch: Grie Soß‚ und Handkäs‚ (mit Apostrophen, wirklich? Oder spielt mir hier meine Erinnerung einen Streich?). Die sind von hier, denke ich. Eingefleischte Bergener hoffentlich, Frankfurter aber ganz sicherlich. Sie werden den Weg wissen.

Pirsche mich also an sie heran, frage nach dem Marktplatz, duze sie – wir sind doch fast eine Generation, so halb, so fast –, sie duzen zurück (ich mag sie prompt), bekomme eine genaue, brauchbare Schilderung. Und eine Warnung.
„Da geht’s aber nicht vor neun los.“
„Wie jetzt?“, frage ich. „Echt nicht? Aber das Zelt? Das öffnet doch um 18 Uhr?“ Ich denke an den Zeitungsartikel, in dem es hieß, die ersten Besucher lauerten schon eine halbe Stunde vorher auf den Einlass. Man will sich halt die besten Plätze sichern, hier, in diesem Bergen-Enkheim. So die Legende.

Die Jungs gucken irritiert – Zelt jetzt schon offen, jetzt schon Äppler, Handkäs‘ und Rabbatz? „Ach nee, ach so, ja“, sagt der eine dann und winkt ab, „da läuft jetzt aber erst mal nur dieses, dieses…“, seine Hand macht eine abfällige Bewegung nach unten, „…Stadtschreibergedöns.“

Stadtschreibergedöns, dieses.

Nee, die Jugend kann anscheinend nichts damit anfangen. Mit dieser Tradition, einen Schriftsteller einzuladen, ihn zu ehren, ihm 20.000 Euro zu überweisen und ihm das einjährige Wohnrecht einzuräumen in einem kleinen, butzeligen Haus in einer der vielen kleinen Gassen in diesem weit von der City abgelegenen Stadtteil. Ihm (klar, auch: ihr) eine Bühne zu bieten, auf der er (klar, auch: sie) eine Antritts- und eine Abschlussrede halten darf, sich präsentieren darf.

Vielleicht können die vier Jungs auch nicht viel mit den Geschichten anfangen, die diese Autoren erzählen, aufschreiben, aufführen lassen. Vielleicht auch nicht viel mit der Sprache, die sie hervorbringen.

Mit Wendungen wie:
„Es war nur ein halber Gedanke, ein vorbewusster Wunsch.“

oder Sätzen wie:
„Sie rissen irgendwelche Abgründe auf, damit es hallte, wenn sie riefen.“

Mit schlicht-schönen Aneinanderreihungen
wie:
„stumm, stumpf, verloren“

Mit knappen Menschenbeschreibungen
wie:
„Er war ganz Brille und farbloser Scheitel.“

Und mit alliterativen Seelenzustandserkundungen
wie:
„Rauchende Ruinen um mich rum und doch nur in mir.“

Mit Worten also, die mehr machen, als nur Handlungen wiederzugeben oder einen Plot voranzutreiben. Mit Formulierungen, die ich voller Bewunderung in Büchern (wie in eben diesem – „Die Welt im Rücken“) dick unterstreiche und dabei denke: Hier wirkt Sprache, hier wirkt die Spürbarkeit der Zeichen. Hier lebt der Text.

Das kann nicht jeder, der sich Schriftsteller nennt, aber der hier, Thomas Melle, der kann das.

Und deswegen habe ich mich heute aufgemacht, den Festzeltplatz zu suchen, mir einen der vorderen Plätze zu ergattern (mach‘ das erst mal: dich durchzusetzen gegen all die netten Graumelierten, die tatsächlich, tatsächlich schon viertel von sechs vor dem noch geschlossenen Zelt mit den Hufen scharren), höre mir erst Peter Feldmanns Schaut-auf-diese-Stadt-Rede an, später Jens Biskys Städtepolitik-Philosophien (dessen feiner Satz „Gentrifizierung ist eine Form des Krieges, nur leiser“ dann doch bei mir hängen bleibt) und ganz zum Schluss Clemens Meyers Cut-up-Collage (die ich auch diesmal keinen Deut mehr verstehe als damals das Äktschn-GmbH-Geschnarre in seiner Poetik-Vorlesung. Die Spürbarkeit der Zeichen – manchmal äußert sie sich brecheisenbrachial-kalauernd).

Melles „Abschiedsrede“ jedoch (als solche ist sein Vortrag betitelt, und so versteht er offenkundig auch seinen Auftrag): sensibel. Zart. Tastende Überlegungen, was dieses eine, dieses gerade — „genau jetzt“ — zu Ende gehende Jahr („abgezirkelt“, sagt er, „wie früher die Schuljahre: Ende August bis Ende August“) ihm bedeutet habe, was überhaupt Zeit bedeute, und dieses Haus, das er sogleich personifiziert: als ein Gebäude, das etwas von den Leben seiner Kurzzeitbewohner speichern könne, das – so Melles Gedankenspiel — vielleicht gar jedem einzelnen von ihnen etwas abgeben könne von der Zeit ihrer Vorgänger.

Melle ruft ins Leben. Haucht allem Atem ein, seinen Figuren, Geschichten, Orten, selbst so abstrakten Begriffen wie „Metaphern“ (die bei ihm „aufgescheucht“ werden), selbst der Zeit (die „stroboskopisch flimmert“). Überhaupt die Zeit: unübersehbar sei sie – und dies im doppelten, herrlich gegensätzlichen Sinn: nicht zu übersehen, aber eben auch unüberblickbar. So richtig wohl scheint sich Melle auf der Bühne dieses Festzelts nicht zu fühlen, nein, aber diese Ambivalenz gefunden zu haben und sie nun für uns herauszuschälen — die Spürbarkeit der Zeichen, da ist sie wieder –, das scheint er dann doch fast zu genießen, der scheidende Stadtschreiber von Bergen-Enkheim.

Renate Müller-Friese, die Bergen-Enkheimer Ortsvorsteherin, scheint von Melles Aufenthalt in ihrem Stadtteil nachhaltig beeindruckt. Er sei oft hier gewesen, berichtet sie, in diesen letzten zwölf Monaten, habe ein Buchfest in seinem Stadtschreiberhäuschen abgehalten, was es so noch nie gegeben habe. Und er habe die Jurysitzung zum Nachfolger-Stadtschreiberpreis mit so pointierten Kommentaren begleitet, dass sie diese Zusammenkunft „nie vergessen“ werde.

Ich wäre gern dabei gewesen.

So aber bekomme ich wenigstens hier, wenn auch umgeben von Gläserklirren und Besteckklappern, von Menschen, die – während Melle spricht – unbeirrt beim herumwuselnden Kellner eine weitere Runde Apfelwein bestellen oder unter Kommentaren ihre Handkäs‘-Rechnung bezahlen („besser jetzt, Herbert, bevor nachher alle auf einmal zahlen wollen!“), einen Hauch Ahnung von diesem Schriftsteller.

Als ich das Zelt verlasse, langsam zu meinem Auto schlendere, komme ich – fast peile ich es an, fast zieht es mich hin – durch die kleine Gasse, die Oberpforte. Ich muss das Haus nicht lange suchen, fünf Jungs stehen davor, wieder so junge Burschen, vielleicht zwanzig Jahre alt, Jeans und T-Shirts, und nein, das denke ich mir nicht aus. Sie studieren die schmalen, mit je zwei Schrauben an der Hauswand festgemachten Namensschilder, deuten auf diesen Autoren-Namen und auf jenen, überlegen laut, wie man „Sherko Fatah“ wohl korrekt ausspricht, bestaunen, dass sogar Herta Müller einmal hier war. „Das war, bevor sie ihren Nobelpreis bekommen hat“, sagt einer. Und ein zweiter sagt: „Vielleicht bekommt Melle den Preis auch irgendwann mal, und wir können sagen, der war hier bei uns.“

Ich schmunzele, als ich weitergehe.
Und denke: Hey, Hoffnung.

 

„Als ob es etwas vom Leben seiner Bewohner speichern könne“ – das Stadtschreiberhaus

„…an dessen Fassade der eigene Name auf einem Schild draufgeschraubt stand“ (Melle) — die Namen aller Stadtschreiber sind an der Hauswand verewigt.

Mehr Hintergründe zur Institution des Stadtschreiberamts:  http://www.berger-markt.de/stadtschreiberfest.html