Nein, das ist nicht schön. Kann nicht schön sein. Da hat man monatelang an einer Inszenierung gearbeitet, sich Gedanken gemacht, sich ausgetauscht, Ideen entwickelt, Ideen verworfen, Ideen auf die Bühne gebracht. Premierenfieber ausgebrütet, sich gegenseitig toi toi toi über die Schulter gespuckt, Luft anhaltend die erste Vorstellung verfolgt (oder auch nicht, wie wir sehen werden). Dann: der Moment. Der Vorhang, der letzte, fällt, der Vorhang öffnet sich wieder, für den Schlussapplaus. Und die Meute, das Publikum, das geschätzte oder verfluchte — klatscht. Oder eben: buht.

Ja, das passiert, erzählt Tobias Kratzer in der hr2-Sendung „Menschen und ihre Musik”. Der Theater- und Opernregisseur bringt regelmäßig neue Inszenierungen auf die Theaterbühnen (zuletzt etwa, von mir heiß geschätzt: Die ersten Menschen, in der Oper Frankfurt) und kennt den Moment, wenn man als Regisseur nach einer Premiere auf die Bühne und damit vor sein Publikum tritt und sich hin und wieder Pfiffe oder böse Rufe abholen muss.

„Ich weiß es meistens schon, ob oder wann ein Buh kommt”, sagt Kratzer. Bei klassischen Stücken, etwa von Richard Wagner, sei dies fast unausweichlich. Zu bekannt seien seine Werke, zu sehr hat doch jede Operngängerin eine Meinung zu den großen Wagneropern. Aber selbst, wenn man „intellektuell darauf eingestellt sei”, wie Kratzer sagt, sich also innerlich und gedanklich schon wappnet, dass die gerade gezeigte Inszenierung vielleicht nicht jedem gefalle, ist es erst einmal ein „gewisses schockhaftes Moment”, wenn einem „aus mehreren Kehlen ein Buh entgegenschallt”. „Eigentümlich” sei das für ihn, dass ein Missfallen in so einer … (und hier lacht er, als würde er es nicht gar zu ernst nehmen) „vorzivilisatorischen Form” geäußert werde.

„Ich habe doch selber gar nichts geleistet“

Doch dann erklärt er etwas Überraschendes: Es ist gar nicht mal das Schlimmste, auf die Bühne zu treten, die Buhs entgegen zu nehmen und dazu zu lächeln, seinen „Kopf hinzuhalten”, wie Kratzer sagt. Fast noch unwohler fühle sich der Regisseur, wenn er nach einem Premierenstück reinen Applaus ernte. Denn: Er selber habe ja an eben diesem Abend nichts geleistet. Da sind die Sänger, die Orchestermusiker, die Dirigentin, die ganzen Hinter-der-Bühne-Werkelnden, er selber aber, der Premieren ohnehin meidet, lieber ein Bier trinkt oder schon einmal den Koffer für die Abreise packt, er selber erlebe jedenfalls keine „großen Adrenalinstöße” während dieser zwei oder drei Stunden.

Und dann muss er aber, aus dieser vergleichsweise doch eher entspannten Stimmung heraus, das, was ihm das Publikum entgegenbringt, irgendwie „mimisch oder gestisch zur Kenntnis nehmen”. „Und dafür bin ich noch nicht einmal ausgebildet!” Ja, das sei sicher im ganzen Produktionsprozess eines neuen Stücks, einer neuen Operninszenierung, der Moment, in dem man sich eigentlich am gelöstesten, am glücklichsten fühlen sollte. Wo er sich jedoch, und das sagt er unumwunden, vor allem eins fühle: laienhaft.

 

 

 

 

Über diese Reihe 

Die Romelly-Reihe „Der Moment“ wirft ein Schlaglicht auf kurze Situationen, die bestimmten Menschen im Gedächtnis geblieben sind oder ihnen etwas bedeuten. Weil sie darin etwas erkannt haben, weil ihr Weg von da an eine andere Richtung genommen hat – oder einfach auch, weil sie es hier besonders gespürt haben: das Leben, die Liebe oder das Glück. Bisher in dieser Reihe erschienen:

Katharina Konradi: Die Powerstimme kam beim Wischen

Kati Witt und der Pfiff von Papa

 

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