Es ist mir unheimlich schwergefallen, das Buch „Der Turm“ in einem Rutsch zu lesen. Gut, die knapp 1000 Seiten über die letzten Jahre der DDR, geschrieben von Uwe Tellkamp, sind auch nicht gerade seichte Kost, das ist das eine. Aber, und das war viel eher ausschlaggebend: Das Buch hatte sehr viel mit mir zu tun. Vor allem der Romananfang: 1982, Dresden. Weihnachtszeit. Schnee liegt in der Luft.

Während ich vor einigen Monaten diese ersten Seiten las, war auch ich wieder dort, mittendrin in meiner Vergangenheit, in dem letzten Jahr, das wir in der DDR verbringen sollten. In dem Ort bei Dresden, in dem wir damals wohnten, in meinem ersten Schuljahr und in der Adventszeit.

Ich erinnere mich, wie mein Vater mit mir auf einem Holzschlitten eine verschneite, steile Gasse hinuntergerodelt ist – und sich dabei den Fuß verstauchte. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mich, als unser Lada nicht anspringen wollte, morgens durch den kalten Wind zur Schule brachte, an den Ort, wo um 7 Uhr bereits die Sportstunde begann. Für Frieden und für Sozialismus. Ich erinnere mich auch, wie meine Mutter mit mir meinen ersten Adventskalender bastelte, aus aneinandergebundenen und bemalten Streichholzschachteln. Und ich erinnere mich an zwei Kassetten, die mein Vater in diesen Dezemberwochen außer der Reihe erstanden hatte, Bückware nannte man das, weil der Verkäufer weit unter den Ladentisch greifen musste, um die besondere und reglementierte Ware hervorzuholen. Diesmal hatte mein Vater Glück: zwei Kassetten mit Weihnachtsliedern. Monika Hauff & Klaus-Dieter Henkler, Aurora Lacasa, Hartmut Schulze-Gerlach. Wird vermutlich den wenigsten von Euch etwas sagen. Im Osten aber waren die Schlagersänger kleine Stars. Und für uns waren diese Kassetten etwas ganz Besonderes.

1982: Der Ausreiseantrag läuft

Ich habe nun also den „Turm“ gelesen und dabei eine Zeitreise gemacht. Mich an diese merkwürdige Epoche erinnert, in der für unsere Familie schon etwas wie Veränderung in der Luft lag. Der Ausreiseantrag war gestellt, seit mehr als einem Jahr nun schon. Beide, Mama und Papa, hatten infolgedessen ihre Jobs verloren; als Klassenfeinde weiter Schulkinder zu unterrichten, kam ja gar nicht in Frage. Mein Vater war in einer Schlosserei untergekommen, meine Mutter in einer Sirupfabrik. Und ich verdiente mir erste Bienchen und Sternchen im Deutschunterricht, trug immer mal ein blaues Pionierhalstuch und sang am liebsten „Kleine weiße Friedenstaube“ und „Erna kommt“.

Ich war eingeweiht. Ich wusste, dass meine Eltern mit uns, meiner kleinen Schwester und mir, das Land verlassen wollten. Ganz legal, per Ausreiseantrag, mit dem Argument: Familienzusammenführung – meine Großmutter lebte seit Jahrzehnten in den USA.

Heute werde ich manchmal gefragt: Wurdet ihr bespitzelt? Wurdest du in der Schule besonders beäugt oder von den Lehrern getriezt? Immerhin wart ihr doch Klassenfeinde?

Ja, es gab so einige kleine Vorfälle, die uns, vor allem im Rückblick, merkwürdig vorkamen. Da klebte uns etwa jemand einen Werbeaufkleber „Go West“ auf den Lada (gedankenloser Witz? Intrigante Falle?) – und mein Vater, der anfänglich noch drüber lachte, ist nachts im Pyjama aus dem Haus gehechtet, um den Aufkleber wieder abzukratzen, bevor die Stasi eine Chance hatte, ihm daraus einen Strick zu drehen. Da bot jemand meinen Eltern an, Geld in den Westen zu schmuggeln. Was sie aber ablehnten. Da stand wochenlang ein unbekanntes Auto in der Straße, gegenüber unserem Haus, zwei Männer darin, die herüberguckten. Und einmal kam meine Klassenlehrerin zu meinen Eltern, um sie zu warnen: Zwei Stasileute hätten sie in der Schule aufgesucht, hätten sich nach mir erkundigt, ob ich immer ausreichend zu Essen dabei hätte, ob ich nicht wohlmöglich etwas verwahrlost im Unterricht erscheinen würde – der Staat suchte nach Anhaltspunkten, um Ausreisewilligen die Kinder wegzunehmen. Kinder waren ideologisch wertvoll, darin unterschied sich der DDR-Sozialismus kaum vom Nazitum seinerzeit.

Sächsische Quarkkeulchen und Soljanka

Vermutlich gibt es noch viele weitere Geschichten, die mir meine Eltern nur nicht erzählt haben oder die sie vielleicht auch schon wieder vergessen haben. Man will sich ja auch nicht immer an alles erinnern. Und auch von ihren Stasi-Akten, die da vermutlich in Berlin auf sie warten, wollen meine Eltern bis heute nichts wissen. Alte Geschichten, Vergangenheit, Schluss.

Jetzt, 30 Jahre später, mache ich mir einen Videoabend. Der Turm-Roman ist ausgelesen, ich habe gelacht (die Weihnachtsbaum-Geschichte!), vor Wut gezittert (Stasi bedrängt Richard Hoffmann aufs Ekelhafteste) und gestaunt (dieses drei-Zeilen-Kapitel, dieses nur angedeutete, ja, hingehauchte, aber alles erzählende Telefonat zwischen Richard und Reina), bin mindestens dreimal gedanklich vor Herrn Tellkamp auf die Knie gefallen. Er schreibt und konstruiert phänomenal. Nun aber will ich sehen, was die ARD daraus gemacht hat, wie sie dieses Mammutwerk in einen „Event-Zweiteiler“ (jaa, so nennt die ARD den Film, mir graut, mir graut…) umgesetzt hat.

Und weil so ein geschichtsträchtiger Fernsehabend irgendwie ritualisiert gehört, stehe ich Stunden (naja, laaange Minuten) in der Küche und zaubere die zwei Lieblingsessen meiner Ost-Kindheit: Soljanka, nach Mama-Art (also nicht mit so irrwitzig viel und unterschiedlicher Wurst, wie man den Eintopf heute noch in vielen Ost-Gaststätten bekommt, sondern mit Weißkohl, Sahne und viel, viel Paprikapulver) und Quarkkeulchen, nach dem Rezept von und ein bisserl auch in Gedenken an meine „Meissner-Oma“, wie wir Kinder sie immer nannten.

Herausgekommen ist das hier:

 

 

Kommentar von einer sehr, sehr nahen Verwandten (von einer, die es wissen muss): „Sieht leggor aus, abo das mit deem Sallad-Sahne-Gleggs, son Förlefans hattn mor domols ne.'“

Ach, und der Film? Gut ist er, ach was, fantastisch. Nur in die Vergangenheit zurückversetzen konnte er mich nicht so sehr, wie das Tellkamps Buch gelang. Aber naja. Vielleicht lege ich einfach noch ein bisschen Weihnachtsmusik mit Monika Hauff & Klaus-Dieter Henkler ein?