NINO HARATISCHWILI TRITT STADTSCHREIBERAMT AN // Am Ende gab es Standing Ovations. Und zwar ordentlich. Nicht zögerlich, peu à peu sich erhebende Menschen, bei denen man nie so recht weiß: Wollen sie nur schnell zum Ausgang, die ersten an der Garderobe, im Parkhaus sein — und kommen nur nicht mehr rechtzeitig aus den Publikumsreihen? — nein!, ein Aufspringen allerorten, Beifall, Bravorufe.
Nino Haratischwili hatte uns alle.
Der Abend hatte schon fein begonnen: Eine sympathische Auftaktrede vom noch recht neuen Oberbürgermeister Mike Josef, der erst einmal den Eingang ins Bergener Bierzelt habe finden müssen, wie er sagte, und hinterherschob: „Ein volles Festzelt, in dem ein bedeutender Literaturpreis vergeben wird, das ist schon etwas Einmaliges.” Der Preis, vor 50 Jahren in Bergen erfunden und „heute eine literarische Institution”, strahle in die ganze Welt aus. Franz Joseph Schneider, Mitglied der Gruppe 47, habe den Preis, der ein Gastrecht im Stadtschreiberhaus als auch ein Stipendium beinhalte, einst ins Leben gerufen, Schneiders Tochter sei heute anwesend. Willy Brandt habe einmal bei einer Verleihung des Preises seine Glückwünsche übermittelt und gesagt, es wäre gut, wenn andere Städte und Gemeinden diesem Beispiel folgten. Während Josefs Amtsvorgänger, Peter Feldmann, zu diesem Anlass einst eher selbst eine „Schaut–auf-diese-Stadt-Rede” gehalten hatte, blieb Josef beim Thema Stadtschreiber. Gut so, irgendwie.
Literatur braucht kein Brimborium
Für Ina Hartwig, die ich diese Woche nun schon zum zweiten Mal am Rednerpult sehe (das erste Mal hier), zeigt das Stadtschreiberfest, worauf es ankomme: Literatur brauche keine prunkvollen Villen oder Säle, kein Brimborium, sondern aufgeschlossene und neugierige Menschen, die sich innerlich öffnen, sich von Texten anregen, „vielleicht sogar aufregen” lassen. Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank und als Festredner geladen, erörterte in einer klug formulierten Analyse, warum aus seiner Sicht die Kunstfreiheit in manchen Fällen über den Befindlichkeiten von Minderheiten stehe, etwa die Absage von Roger Waters Konzert in Frankfurt kritisch zu sehen sei.
Ein vergessener Clemens, eine aufgetauchte Carina
Feine Momente auch, als nach und nach ehemalige Stadtschreiber und Familienangehörige bereits verstorbener Ehrenträger namentlich auf die Bühne gerufen wurden. Da standen sie nun, bildeten einen Halbkreis, unter ihnen etwa Eva Demski, Anne Weber, Sherko Fatah, Katharina Hacker, Marcel Beyer samt Frau, der Künstlerin Jacqueline Merz, weiter die Tochter von Peter Kurzeck (ja, eben jene Carina, über die er so zärtlich in seinen Büchern erzählte), die ihrem Vater so ähnlich sieht, dass ich ganz rührselig werde. Drücken möchte man sie, sagen, Carina, da bist du ja! Groß bist du geworden! Aber nun, ich hielt mich auf meinem Platz. Und auch Clemens Meyer gehörte zur Runde. Gut, versehentlich wird er bei der Aufrufung übergangen, aber nach behändem Einschreiten von Verleger Joachim Unseld wird er dann doch rasch auf die Bühne gebeten (und nutzt nicht etwa den Seitenaufgang, wie alle anderen, sondern springt mal eben vorn auf die Bühne. Sagte nicht irgendwann einer was von „Enfant terrible” der deutschen Literatur?)
Bergener Publikum: „Wir sind bei dir”
Schließlich die Abschiedsrede der (die letzten Minuten noch) amtierenden Stadtschreiberin Marion Poschmann, die das Publikum nicht nur einmal zum Lachen brachte, etwa als sie dem 50. Jubiläum des Stadtschreiberpreises (das wir heute feierten) das gefühlt fünfzigste Jubiläum der Diskussion um den Riederwaldtunnel gegenüberstellte. Da hatte sich doch eine in ihrem Stadtschreiberjahr mit den Skurrilitäten des Lokalen beschäftigt, das gewinnt Freunde hier im Zelt, natürlich. Und sie verriet, dass sie doch tatsächlich, klammheimlich, im Garten ihres Stadtschreiberhäuschens eine kleine Walnuss vergraben habe. Wieder diebische Freude beim Publikum.
Und dann die Antrittsrede.
Zunächst: Sie sei, auch wenn sie dies nicht erwartet habe, aufgeregt, sagt Nino Haratischwili. Schon kommt erster Beifall aus dem Publikum. Wir sind bei Dir, wollen sie alle sagen, wir sind doch Frankfurter, Bergener, Stadtschreiber-Liebhabende, wir lassen hier keinen im Regen stehen (der übrigens schon kräftig aufs Dach prasselte).
Haratischwilis Bücher: Zwischen Jubel und Prügel
Ich habe Nino Haratischwili noch nicht gelesen, habe mich, um es ehrlich auszudrücken, noch nichts so recht an sie herangetraut. Ihr Erfolgsroman Das achte Leben (Für Brilka) kam heraus, da hatte ich gerade anderes zu tun, hatte allzu Schmerzliches zu bewältigen, als dass ich mich auf 1000 Seiten Georgiengeschichte hätte einlassen wollen. Ihr nächster Wurf dann, Die Katze und der General, wurde zwar von Insa Wilke hoch gelobt (und auf Insa Wilkes Urteil gebe ich viel), aber in derselben Sendeminute noch prügelte Ijoma Mangold (unterstützt von Dennis Scheck) derart auf den Roman ein (schlechte Bilder, Wiederholungen müder Metaphern etc. etc.), dass mir fast übel wurde. Nicht von der zu erwartenden scheinbar schlechten Literatur, sondern von diesem Draufhaun’. (Fremdgekränktsein nenne ich so was ja, ähnlich einer Fremdscham, ein starker Stellvertreterschmerz, der über Mitleid oder Mitgefühl hinausgeht, weil er bohrender ist, und den ich ständig beim Lesen dieses so arg kritisierten Buchs gefühlt hätte, ich kenn mich doch.) Also: beiseite gedrückt, die Autorin und ihre Wälzer, erst mal.
Hier nun aber, in Bergen, im Festzelt, festgestellt, dass ich ihre Sprache mag.
In ihrem Vortrag, in dem sie, so sagt sie gleich zu Beginn, ein wichtiges Anliegen anbringen möchte, ergründet sie die Frage: Warum überhaupt schreiben?
Die Ukrainerin Tanja Maljartschuk hatte sich in der Eröffnungsrede zum diesjährigen Bachmannpreis als gebrochene Autorin beschrieben, als eine Autorin, die – angesichts des russischen Angriffskriegs auf ihr Heimatland – ihre Sprache verloren habe.
Triste Kriegsrealität in andere Farben tauchen
Haratischwili habe lange über die Rede ihrer Kollegin nachgedacht. Denn die Welt des Grauens, der sinnlosen Gewalt, sei auch ihr, der gebürtigen Georgierin, sehr vertraut. Auch ihre Kindheit und Jugend sei von den Bildern russischer Panzer geprägt, von Entbehrungen, von Krisen. Sie habe bislang kaum darüber gesprochen, wollte nicht verstören, schon gar nicht bemitleidet werden. Dass sie an ihren Erfahrungen nicht zerbrochen sei, habe zwei Gründe: ihr damals junges Alter. Und: das Schreiben, das, so sagt sie, „irgendwie immer da gewesen” sei. Sie erinnert sich an die Hefte, die sie – „manisch” – vollgeschrieben hätte; unzähliger solcher Schreibhefte, voll mit erfundenen Geschichten, lägen noch in ihrem Zimmer in Tiflis, sie traue sich „kaum, hineinzuschauen”. Ihre triste Realität in andere Farben zu tauchen, das habe sie vermutlich angetrieben, sagt sie heute. Ablenkung, innere Flucht. „Ich las und las. Und dann schrieb ich und schrieb ich.” Selbstverständlich wie Essen oder Schlafen sei ihr das Schreiben gewesen, Lichtjahre sei sie von dem Gedanken entfernt gewesen, „ernsthaft Literatur zu verfassen”.
Einmal, sie stand im kriegsgeschüttelten Georgien mit einer Freundin in einer Schlange zur Essensausgabe an, folgte sie einem Einfall: Wickelte eine Puppe in ihre Jacke, gab dieses Bündel als Baby aus, fing an, sich mit ihrer Freundin laut über Babythemen zu unterhalten, dass es Koliken habe und ähnliches. Daraus entwickelte sich eine Dynamik, um sie herum machten immer mehr Leute das betrügerische Spiel mit. „Hier habe ich erkannt, dass ich durch Erfindung Dinge verändern kann”, sagt sie. „Ich konnte sie spannender, aufregender, bunter und abenteuerlicher gestalten.” Diese Erkenntnis habe ihr eine „ungeahnte Freude” verschafft – die bis heute anhalte. Die Phantasie könne Sinn in absolute Sinnlosigkeit bringen und so ein Weg sein – manchmal der einzige –, die Wirklichkeit auszuhalten.
Schreiben als Labor
Ist Literatur also Therapie? Nein, sagt Nino Haratischwili. Denn sie heile nicht. Sie beantworte nicht einmal immer etwas. Vielmehr spiegele sie. Erzählt. Beschreibt. Nuanciert. Stochert in den Wunden. Auch ist sie kein wirkliches Fluchtmittel aus der Realität. „Schließlich wollte ich nie Märchen erzählen.” Eher sei das Schreiben für sie eine Art Labor, in dem sie mittels eines Mikroskops alles bis aufs kleinste Detail betrachten könne. Haratischwili, die auch Theaterstücke schreibt, folge dem Reiz, im Schreiben ein anderer zu sein. „Es ist eine Art Spiel, Schauspiel, wenn man so will.” Nur dass die Figuren nicht mit ihrem Körper, sondern ihren Worten zu Leben erweckt würden. Beim Schreiben sei sie so weit von sich selbst entfernt wie sonst nie, habe aber gleichzeitig Zugriff auf Dinge, die sonst verborgen seien.
Wozu also Schreiben, wenn man die Realität mit Worten doch ohnehin nicht formen, nicht beeinflussen kann? Wozu überhaupt Kunst, wenn die Welt „irrsinnig geworden” sei? Wird nicht jede Empathie, die der Literatur zugrunde liegt, durch Krieg ausgelöscht? Der Prozess des Schreibens sei ihr vermutlich als Jugendliche „Sinn genug” gewesen, überlegt sie laut. Heute müsse man diesen Sinn wieder finden, ihn womöglich neu erschaffen.
Sie versucht es mit dieser Philosophie: „Die Welt ist aus Geschichten gewebt.” Mehr noch, und daran glaube sie: „Durch aus Worten gewebten unsichtbaren Fäden sind wir alle miteinander verbunden.” Und aus Worten würde Empathie gewebt – die effektivste Prävention gegen jede Gewalt. „Wir teilen uns mit, machen uns zugänglich, schlagen Brücken.” Gäbe es in jeder Minute Empathie, gäbe es keine Kriege. Und so lange dies nicht so sei, müsse man sie „künstlich züchten”. In den Laboren der Kunst, in der Literatur. Vielleicht können Worte keine Kriege verhindern, vielleicht sind sie machtlos. „Aber ohne die Versuche und ohne diese Brücken sind wir verloren.”
Das Stadtschreiberfest macht, dass man Nordend, Westend, Sachsenhausen den Rücken kehren, dass man ein Bergener werden möchte.
Zu den Menschen im Festzelt des Berger Stadtschreiberfestes, hier am Vorabend des Berger Markts, hat sie eine gewaltige Brücke geschlagen. Wir erheben uns, alle, eben nicht, um vorschnell, bevor der nächste Regenguss kommt, zu unseren Autos zu rennen oder nach Hause zu laufen, oder die ersten bei der Pfandrückgabe des Ausschanks zu sein. Wir applaudieren der Sprachkunst dieser Autorin, ihrer Offenheit, ihrem Mut, hier für uns nochmal gedanklich in ihre Kindheit zurückzukehren und uns gleich, ein Stück weit, mitzunehmen. Und wer Bergener ist, und das sind hier einige, applaudiert ihr – sowieso – ein Riesen-Willkommen.
Ich seufze.
Das Stadtschreiberfest macht, dass man Nordend, Westend, Sachsenhausen den Rücken kehren, dass man ein Bergener werden möchte. In die „Alte Post” einkehren, von der hier mindestens genauso häufig die Rede ist wie von der Wirtin, der „Dragi”, in der Buchhandlung „Bergen erlesen” stöbern (wo es übrigens ein Büchlein zu kaufen gibt, das die Reden der beiden Frauen und weiteres Material umfasst), am Berger Hang spazieren. Ich nehme mir vor, öfter mal wieder eine Tour in den östlichsten Frankfurter Stadtteil zu machen, vielleicht diesen Herbst schon, spätestens nächstes Frühjahr. Ich werde Das achte Leben dabei haben und darin lesen. Und vielleicht, wenn ich ganz mutig bin, werde ich versuchen, mich in den Garten des Stadtschreiberhauses zu schummeln und hier die Erde absuchen – ob nicht irgendwo bereits ein Mini-Walnussbaum sprießt.
— Round-up —
Schönster Gedanke:
Beim Lesen betrete man einen magischen Ort, sagt Nino Haratischwili, an dem alle Optionen, alle Möglichkeiten lagerten. „Dort sind alle Wege, die wir niemals gegangen sind, alle Abzweigungen, die wir nie genommen haben, alle Menschen, die wir niemals getroffen haben, alle Kinder, die wir niemals geboren haben, alle Männer und Frauen, die wir niemals geliebt haben.”
Größter Brüller:
Was denn das Beste an seinem Stadtschreiberjahr in Bergen-Enkheim gewesen sei, fragt die Moderatorin Clemens Meyer während der Alumni-Runde. „Das Hessencenter!” Schallendes Lachen beim Publikum.
Good to know:
Nino Haratischwili verfasst neben ihren Romanen auch Theaterstücke. Ihr Werk Phädra in Flammen wird am 15. März 2024 im Frankfurter Schauspiel Premiere feiern.
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