Einmal die Arktis sehen. Ballett lernen – mit vierzig. Oder einfach nur: Frauenbeauftragte werden. Lebensträume gibt es so viele, wie es Menschen gibt. Ich sitze im Foyer des Hessischen Rundfunks in Frankfurt und lausche den Erzählungen aus dem Publikum. Etwa 100 Frauen (und einige wenige Männer) sind der Einladung der Frauenzeitschrift emotion gefolgt, um gemeinsam mit Angelika Gulder, Psychologin und Lebenscoach, ihre innigsten Wünsche hervor zu kitzeln – und zu erfahren, wie sie sich die erfüllen können. „Aufgewacht“, heißt Gulders Programm, nach ihrem gleichnamigen Selbsthilfebuch, und diesen Wake-up-call haben offenbar mehr Menschen nötig, als man denkt.
Denn: Nicht immer sei einem bewusst, was man eigentlich vom Leben erwarte, erklärt Gulder. Man funktioniert, lebt seinen Alltag, macht sein Ding. Nur manchmal schleicht sich diese Frage ins Leben, hakt sich hinterrücks ein zwischen dem morgendlichen Broteschmieren und dem abendlichen Zähneputzen – und bleibt dann auch meist hartnäckig: Muss da nicht noch mehr sein? Sollte man nicht, ja, so pathetisch es auch klingen mag, zufriedener, glücklicher, oder besser noch: „erfüllt“ sein?
„Auf einer Skala von eins bis zehn“, fragt Gulder deshalb gerade ihr Publikum, „wie erfüllt fühlt sich Ihr Leben an?“ Hand hoch bei zehn, der Höchstzahl, bittet sie. Eine einzelne Dame meldet sich. „Ich tippe mal“, sagt Gulder, „Sie sind entweder neu verliebt oder haben gerade den Job gewechselt.“ Volltreffer, die Zehner-Dame nickt, lacht. Weiter. „Sieben bis neun“, fordert Gulder nun. Es melden sich schon mehr. Doch die überwiegende Zahl der Zuhörer gruppiert sich in die Unter-sechs-Riege ein. „Und das ist für ein gutes Leben entschieden zu wenig“, konstatiert die Beraterin.
Doch wie weiß man, was man will? Woher weiß ich, welches Leben für mich das richtige ist, welcher Traum da tief in mir schlummert? Gulder verrät einen bestechend einfachen Trick. „Überlegen Sie doch mal: Wie waren Sie als Kind? Konnte Ihre Mutter noch so sehr warnen, Schatz, es regnet doch – Sie aber zog es aber trotzdem nach draußen? Oder aber: Lockte draußen noch so sehr die Sonne, Sie kuschelten sich lieber drinnen ein über einem guten Buch oder mit einem Instrument?“ Früh kristallisiere sich nämlich bereits heraus, für welche Art von Leben wir geboren sind, wo wir uns instinktiv wohl fühlen. „Allzu viele Draußenkinder verkümmern heute als Erwachsene in engen, stickigen Büros“, sagt Gulder, „wären aber draußen, als Eventmanager vielleicht oder als Außendienstler, viel besser dran.“ Je älter wir werden, sagt Gulder, desto mehr werden wir zu Menschen, die wir gar nicht sind.
Urplötzlich steigt in mir ein Bild aus meiner eigenen Vergangenheit hoch: Das Mädchen, das Geschichten über sprechende Hunde und über Aussiedlerkinder schreibt und stapelweise Bücher aus der kleinen Gemeindebücherei nach Hause schleppt, das sich so gar nicht, gar nicht, draußen auf dem Spielplatz tummeln will, und das seine Abenteuerlust erst sehr viel später entdeckt (dann nämlich, als Abenteuerlust viel mit Jungs und Tanzen und Welt entdecken zu tun hat, aber das ist eine andere Geschichte). Huff. Dieses uncoole Stubenhockertum war also keine Phase, sondern vielmehr bezeichnend, dient heute als Indiz dafür, was mir – auch als Erwachsener – gut tut? Und tatsächlich. Home-Office-Werkeln, für ein paar Stunden abgeschieden sein vom Lärm der Welt, beruflich am liebsten nur über Telefon und E-Mail mit anderen Menschen verbunden sein – ja, daraus ziehe ich auch heute noch Kraft. Draußen sein – so sehr es mich oft inspiriert und mir neue Ideen verschafft, so sehr strengt es mich auch an, laugt mich im schlimmsten Fall sogar aus. Verblüffend. Warum ist mir das früher nie aufgefallen?
Doch es wird noch kniffliger: Denn oftmals halten wir etwas für einen Lebenstraum, für unsere Bestimmung, was aber eigentlich von außen über uns geschwappt ist, erklärt Gulder. Da gibt es viele lauernde Quellen: Die Medien, die so viele Lebensentwürfe als die richtigen verkaufen, vermeintliche Vorbilder, die uns beeindrucken – aber vielleicht doch nur blenden. Und schließlich die Erwartungen unserer Familie, etwa des überehrgeizigen Vaters, der uns so gern auf der Doktorandenstelle sähe. Hier gilt es, die echten von den fremden, den abgeguckten oder aufgedrückten Träumen zu trennen. Denn, so die Lebensberaterin: „Verfolgen Sie einen Traum, der gar nicht ihr eigener ist, dann stellen Sie sich nur selber ein Bein. Denn Ihre Seele, Ihr Innerstes, wird einfach nicht mitspielen.“ Den echten, ureigenen Lebenstraum schließlich erkenne man sehr einfach: „Der hängt an Ihnen wie Pattex“, hilft Gulder. „Der lässt Sie nie mehr los. Den können Sie also gar nicht übersehen.“ Noch ein Indiz: „Wenn Ihnen bei dem Gedanken an diesen Traum ihr Herz aufgeht, sich ein Gefühl von Weite einstellt – dann können Sie damit nicht falsch liegen.“
Und während nun knapp hundert Frauen in sich hinein fühlen, vorsichtig austesten, ob sich bei dem Gedanken an ein eigenes Strickgeschäft ein Kribbeln einstellt, ob hinter dem Plan, eigene Kinder zu haben, vielleicht eher der Wunsch der eigenen Mutter steckt, endlich Oma zu werden – und ob dieses Auswandererding vielleicht gar nicht so sehr ein Hirngespinst ist wie immer gedacht – da geht Gulder schon weiter. „Wenn Sie bereits wissen, was Ihnen gut tut, was tun Sie dafür? Können Sie wirklich sagen, Sie arbeiten in irgendeiner Form Ihrem Traum entgegen?“ Grummeln im Publikum. Was soll man denn, wie soll denn das – bei all dem Stress, den man doch so, und dann: in meinem Alter, in meiner Lage, in meiner… Stopp.
Es geht nicht darum, gleich den großen Wurf zu machen, sondern darum, überhaupt erst mal loszulegen. Sie selbst etwa habe jahrelang davon geträumt, Kanada zu sehen. Davon, über mehrere Wochen hinweg an der Westküste zu schippern, zu wandern und die Gegend zu erkunden. Die Zeit dafür hatte sie tatsächlich nie. Schließlich hat sie sich aber selbst eine einwöchige Westkanadatour zum Geburtstag geschenkt. „Fangen Sie klein an, in Etappen oder in Teilschritten“, rät sie deshalb. Menschen, die daran denken, freiberuflich zu arbeiten, sollten vielleicht mit einer Teilzeitselbständigkeit beginnen. „Es geht ja auch ums Ausprobieren.“
Und am Ende müsse man das alles auch nicht tun, sagt Gulder dann noch provokativ. „Bleiben Sie eben, wo Sie sind, bewegen Sie sich nicht von der Stelle. Man kann Lebensträume natürlich auch mit ins Grab nehmen.“
Die Frauen um mich herum lachen. Mit ins Grab nehmen? Meine Träume? Nix da!, scheinen ihre leuchtenden Augen zu sagen. Bei der anschließenden Sektsause schnappe ich Gesprächsfetzen auf: „Ich wollte ja schon immer mal…“, „Gleich morgen werde ich“ und: „Warum habe ich eigentlich nicht schon früher…?“
Vielleicht wird nicht jede der Frauen gleich nächste Woche zur Weltreise aufbrechen. Aber sicher schon mal Reisekataloge besorgen.
– Hängengeblieben —
Zitate von Angelika Gulder:
- Der Erfolg oder Misserfolg eines Traumprojekts entscheidet sich nicht – wie viele meinen – an der Leidenschaft oder am Mut. Sondern ganz oft einfach am Fleiß.
- Wir haben heute alle Freiheiten. Der einzige Ort, wo wir sie uns zu selten erlauben, ist in unseren Köpfen.
- Barrieren, Hemmungen immer aufschreiben. Dann kann man besser mit ihnen umgehen.
- Selbständigkeit ist ein existenzieller Traum. Wer den einmal hat, den verlässt er nicht wieder.
Angelika Gulder hat Hilfsinstrumente entwickelt, mit denen Orientierungssuchende ihre Berufung finden können sollen – „innerhalb von fünf Stunden“, verspricht Gulder. Wer’s ausprobieren mag: Mehr Informationen gibt es unter www.lebenstraum-navigator.com
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